„Es gibt genug Drachen, die Kalec beherrscht. Ich kann es mir einfach nicht leisten, dass jemand sich fragt, warum ich so scharf darauf bin, einen einfachen Orc zu töten!“
„Er ist kein einfacher Orc!“, erwiderte der Vater des Zwielichts heftig. „Verstehst du das nicht? Thrall wird dich vernichten, wenn du ihn nicht zuvor umbringst! Und genau das will ich und das will Lord Todesschwinge! Willst du deinen Meister enttäuschen, nur weil du Angst hast, beschuldigt zu werden? Ich glaube, da gibst du dich der falschen Furcht hin!“
„Kalec hat ihn unter seine Fittiche genommen“, rechtfertigte sich Arygos und sein Kopf senkte sich. „Ich kann nichts tun. Doch immerhin wissen wir, wo er ist. Wir können ihn im Auge behalten. Und vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit. Bald schon ist das alles unwichtig, weil ich der neue Aspekt sein werde. Dann kann ich tun, was ich will.“
„Hast du ihn gesehen?“
Die Frage des Vaters des Zwielichts und der offensichtliche Wechsel des Themas verwirrten beide blaue Drachen. Den einen, an den sie gerichtet war, und den anderen, der das Gespräch belauschte.
„Wen gesehen?“, fragte Arygos.
„Flieg wieder los“, ordnete der Vater des Zwielichts mit plötzlich ruhiger Stimme an. „Flieg nach Nordwesten. Sieh auf zu ihm und kehre zu mir zurück. Geh!“
Arygos nickte und flog in die Nacht. Der Vater des Zwielichts trat zu der Kante und beobachtete ihn, die Kälte verwandelte seinen Atem in kleine Wölkchen.
Kirygosa schluckte schwer. Sie wusste nun, wen Arygos sich ansehen sollte. Chromatus. Der mit den vielen Köpfen. Der, der niemals hätte atmen sollen. Das war die Art von Groteskem, womit sich ihr Blutsbruder verbündet hatte. Sie spürte ein Prickeln, als der Vater des Zwielichts sie ansah.
„Er wird sterben“, sagte er im Plauderton. „Ich weiß, dass du das wissen willst.“
„Arygos? Sicher“, gab sie zurück.
„Mir ist gerade nicht danach, zu dir rüberzukommen, um dich zu foltern“, sagte er. „Kalec wird sterben, genau wie du. Niemand kann sich gleichzeitig gegen Chromatus und Todesschwinge stellen. Selbst die Welt schreit vor Schmerz unter seiner Folter.“
„Vielleicht stirbt Kalec tatsächlich“, stimmte Kirygosa zu. „Und vielleicht auch ich. Aber jemand wird sich gegen Todesschwinge erheben – und gegen dieses Ding, das sein Sohn erschaffen hat.“
Kiry war wahnsinnig stolz auf Kalec. Sie wusste nicht, ob er bereits vermutete, dass Arygos ihn verriet, oder ob er einfach sicherstellen wollte, dass Thrall vor jedem geschützt war, der ihm aus welchen Gründen auch immer schaden wollte. Sicherlich gab es genügend Mitglieder im blauen Drachenschwarm, die Vorsicht walten ließen.
Ihre Hand wanderte zu der trügerisch einfachen Kette, die sie gefangen hielt. Die andere wanderte zu ihrem Bauch. Sie erinnerte sich an die Folter und ein tiefes Bedauern stieg in ihr auf. Sie ließ zu, dass es sie überkam, durchströmte, und atmete leise aus. Sie war noch nicht gebrochen. Sie würde auch jetzt nicht klein beigeben, egal, wie schrecklich der Gedanke war, sowohl Chromatus mit seinen vielen Köpfen als auch Todesschwinge selbst zu bekämpfen. Nicht, wenn es tatsächlich noch Hoffnung gab.
Wie ein Lied schlugen Flügel in der Nacht und der schwer beeindruckte Arygos kehrte zurück.
Der Vater des Zwielichts musterte den Drachen mit festem Blick, dann sagte er sehr leise: „Du tust, was du versprochen hast.“
Und der große blaue Drache vor ihm erbebte.
„Erzählt mir etwas über dieses himmlische Ereignis“, bat Thrall.
„Azeroth hat zwei Monde“, begann Kalec. „Verschiedene Kulturen mögen unterschiedliche Namen für sie haben, aber gewöhnlich drehen sich diese Begriffe um das Thema Mutter und Kind, weil der weiße Mond viel größer ist als der blaue.“
Thrall nickte. „Mein Volk nennt sie die Weiße Dame und das Blaue Kind“, sagte er.
„Genau. Das Ereignis findet statt, wenn sie in perfekter Konjunktion zueinander stehen. Sie wird oft als Umarmung bezeichnet. Weil es scheint, als ob der weiße Mond, die Mutter, das blaue Kind hält. Es ist ein extrem seltenes Ereignis – einmal in vierhundertdreißig Jahren findet es statt. Ich habe es nie selbst erlebt.“
„Also stimmt Ihr mit denen überein, die glauben, dass dies der richtige Weg ist?“, fragte Thrall. „Dass dieses Ereignis die Macht des Aspekts bringen wird?“
„Die Legende besagt, dass die Monde in Konjunktion standen, als die Titanen die ersten Aspekte schufen“, sagte Kalecgos. „Wenn es irgendeinen Zeitpunkt gibt, an dem unser Schwarm den Titel des Aspekts an einen normalen Drachen vergeben sollte, dann jetzt.“
„Titel? Ihr glaubt nicht, dass irgendetwas Besonderes geschehen wird?“
Kalec seufzte und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Noch so vieles ist unbekannt. Wir müssen einen Aspekt haben, Thrall, und wenn man das am besten tut, indem man Wahlzettel zählt und jemanden Aspekt nennt, dann soll es so sein.“
Thrall nickte. „Es scheint... wie ein stilles Ende von einem großen Musikstück“, meinte er und suchte nach Worten. „Ein Aspekt ist so ein mächtiges Wesen... und Ihr, die blauen Drachen, seid die Hüter der Magie, von so vielem, das so blendend und fantasievoll ist. Und der Schwarm soll einfach wählen...“ Er beendete den Gedankengang nicht. Er musste es nicht.
Kalec erwiderte leise: „Ich hege keine besonderen Ambitionen auf den Titel, Thrall, aber ich sage Euch eins: Ich habe Angst um meinen Schwarm und die Welt, wenn Arygos der blaue Aspekt wird.“
Thrall lächelte. „Nicht alle, die Anführer werden, sehnen sich nach der Macht, die damit verbunden ist“, sagte er. „Ich tat es nicht. Aber ich brannte darauf, meinem Volk zu helfen. Es zu befreien. Eine Heimat zu finden, wo es hingehört. Es zu beschützen, damit unsere Kultur erblühen konnte.“
Kalec blickte ihn abschätzend an. „Und das habt Ihr wahrlich getan. Selbst einige Mitglieder der Allianz sprechen gut von Euch. Man könnte sagen, dass Euer Volk Euch gerade jetzt mehr denn je braucht, mit der Welt in diesem Zustand. Und dennoch seid Ihr hier, als einfacher Schamane.“
„Ich erhielt einen anderen Ruf“, sagte Thrall. „Wie Ihr sagtet... die Welt braucht eher Hilfe als mein Volk. Ich ging, um meiner Welt zu helfen. Und durch eine sehr merkwürdige Wendung des Schicksals helfe ich meiner Welt, indem ich hier bin. In der Gesellschaft von blauen Drachen, die herausfinden wollen, wer ihr Aspekt werden soll. Das ist eine riesige Verantwortung, Kalec. Ich weiß zwar nicht viel, aber nach allem, was ich gesehen habe, glaube ich, dass Ihr die beste Wahl seid. Ich hoffe nur, der Rest Eures Schwarms sieht das ebenso.“
„Ich würde sicher nicht Aspekt werden, wenn ich nicht müsste“, sagte Kalec. „Auf eine Art bin ich mir nicht sicher, worauf ich hoffen solclass="underline" auf einen Aspekt, der nur dem Namen nach einer ist. Oder auf einen Aspekt mit all der Macht, die er haben sollte. Für mich wäre es sehr schwer, mich in etwas zu ergeben, was so anders ist. Das ist etwas, über das ich bislang nie nachdenken musste. Etwas, was niemand je getan hat. Es... ist eine große Bürde.“
Thrall beobachtete, wie Kalec sprach, und glaubte, dass er verstand.
Kalec... hatte... Angst.
„Ihr glaubt, dass es Euch verändert, wenn es wirklich passiert“, sagte Thrall und die Worte waren keine Frage.
Still nickte Kalec. „Dafür halten mich die meisten Leute in der alten Welt bereits: für ein mächtiges Wesen. So war es schon immer und so ist diese Verantwortung leicht zu tragen. Aber... ein Aspekt?“ Er sah einen Moment lang zur Seite, sein Blick in die Unendlichkeit gerichtet. „Thrall... ein Aspekt ist nicht einfach ein Drache mit besonderen Kräften. Es ist etwas ganz anderes. Etwas...“ Er suchte nach Worten. „Es wird mich verändern. Das muss es. Aber... zwei der fünf Aspekte wurden verrückt. Alexstrasza mag auf diesem schmalen Grat ja wandern können und Nozdormu ist tatsächlich in seinem eigenen Reich der Zeit verloren gegangen. Was wird aus mir, wenn ich Aspekt werde?“
Es war richtig, Angst zu haben. Thrall hatte etwas Ähnliches erlebt, an dem Tag, an dem Orgrim Schicksalshammer gefallen war und er Thrall zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Er hatte nicht um diese Bürde gebeten, doch er hatte sie angenommen. Er war etwas Größeres als er selbst geworden, mehr als einfach Thrall, Sohn von Durotan und Draka. Er war der Kriegshäuptling geworden. Und jahrelang hatte er diese Verantwortung getragen. Er war, wie es Aggra in ihrer nervigen, doch liebenswert ehrlichen Art beschrieben hatte, ein „Thrall“, ein „Sklave“ der Horde geworden. Kalec wäre nie in der Lage, den Titel des Aspekts einfach abzulegen. Und er würde sehr viel länger leben als ein Orc. Es würde ihn verändern und er könnte es niemals rückgängig machen. Er wäre vielleicht Kalecgos, der blaue Drachenaspekt, doch er wäre niemals mehr Kalec. Was würde das für ihn bedeuten?