Und Thrall erkannte, dass der blaue Drachenschwarm sich zwischen den beiden Wegen entschieden hatte – zwischen Arygos und seiner Anrufung des Ruhms der Vergangenheit und zwischen der simplen Betrachtung der Umarmung. Die Drachen hatten die stille Ruhe gewählt... die Magie... des Augenblicks.
Arygos rief weiter, prahlte, bettelte. Dennoch schienen ihm die blauen Drachen nicht zuhören zu wollen. Wie Statuen, die unter dem blauen und weißen Licht der beiden Monde standen, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auch weiterhin auf die Umarmung. Sie schienen... überrascht, wie schön sie war.
Thrall bemerkte, dass das blauweiße Licht eine magische Illusion erschuf, die auf die ruhigen Leviathane selbst wirkte. Sie schienen zu leuchten, waren von einem besonderen Licht erfüllt und wirkten so überwältigend, dass Thrall sich von den Monden abwandte und stattdessen die Drachen bestaunte.
Und dann änderte sich das Licht. Es schien zu schwinden, löste sich von Arygos und legte sich auf den versammelten Drachenschwarm. Selbst Thrall wusste, dass er zu diesem erlesenen Kreis gehörte. Und dann langsam schwand es auch von ihnen.
Es schwand nicht von Kalecgos.
Und dann verstand Thrall.
Dieses Ritual war keine Sache des Geistes. Ebenso wenig ging es um eine Wahl unter den blauen Drachen, wen sie für den besten Kandidaten hielten. Es ging nicht darum, den „Titel“ des Aspekts zu vergeben, damit der ihn als Werkzeug für sich selbst und seinen Schwarm nutzte.
Das himmlische Phänomen wurde Umarmung genannt. Dabei ging es um das Herz des blauen Drachenschwarms, nicht um sein Gehirn. Dem neuen Aspekt konnten die Kräfte nie durch Gedanken allein übertragen werden. Die Titanen hatten getan, was sie für richtig hielten. Und in diesem Moment hatte der blaue Drachenschwarm das gleiche getan.
Sie hatten nicht einfach auf ihren Verstand gehört, sondern auf ihr Herz, als er und Kalec gesprochen hatten. Sie hatten Thrall und seine Reaktionen beobachtet, wie er sie beobachtet hatte. Offensichtlich hatten sie ihn gehört. Was er zum Thema „im Augenblick leben“ gesagt hatte, über das Wunder, mit dem sie ihre eigenen Leben betrachten sollten, ihre eigenen Fähigkeiten, ihr eigenes Ich. Sie waren etwas wirklich Schönes und Magisches – mit der Kraft, die nur aus ihrer Anmut und Seltenheit entsprang und die keinerlei Dominanz oder Macht bot. Als sie zu ihnen gekommen war, hatten sie sich ihr zugewandt wie eine Blume der Sonne. Und ihre Herzen wurden bewegt, aus Angst wurde Hoffnung, statt um Aussperren ging es um das Hereinlassen.
Das Leuchten um Kalecgos wurde intensiver, selbst als es um die anderen Drachen schwand, und dann bewegte sich am Himmel das blaue Kind aus der liebenden Umarmung der Mutter.
Kalec atmete jetzt schnell, seine Augen waren vor Erstaunen weit geöffnet. Auf einmal schoss er in den Himmel. Thrall hob eine Hand, um sich vor der Helligkeit zu schützen, die der neugeborene Aspekt ausstrahlte. Es war unerträglich, Kalecgos anzusehen, so grell war er, wie ein Stern – nein, wie eine Sonne – strahlend, schön und schrecklich. Ihm oblag nun die ultimative Herrschaft der arkanen Magie, die ihm freiwillig von seinem Schwarm gegeben worden war. Voller Hoffnung, Liebe und Vertrauen, von Mutter und Kind, von dem Echo dessen, was die Titanen bereitwillig vor langer Zeit gegeben hatten.
Und dann plötzlich, als seine Flügel beim Schlagen schon den Himmel zu zerschneiden drohten, geschah etwas Unerwartetes.
Kalecgos lachte.
Das fröhliche Geräusch ging von ihm aus. Es war hell und kristallin wie der weiße Schnee, leicht wie eine Feder, rein wie die Liebe einer Mutter. Es war nicht der zischende Laut eines Siegers, der vor Triumph lachte. Es war so köstlich, dass man es nicht zurückhalten konnte. Etwas so Starkes, Lebendiges und wahrlich Magisches, was mit anderen geteilt werden musste.
Thrall bemerkte, dass auch er vor Freude lachte. Er konnte den Blick nicht von der Gestalt des blauweißen Drachen lösen, der am Nachthimmel tanzte. Drachengelächter, glockenhell und merkwürdig süß, stieg um ihn herum auf. Thralls Herz war unglaublich erfüllt, und als er sich umsah, fühlte er in diesem verzauberten Moment eine Verbundenheit mit den größten Drachen dieser Welt. Er sah auch in ihren Augen Tränen der Freude glitzern. Sein Herz wurde leicht und gleichzeitig ruhig und für einen Moment glaubte er, er könnte auch fliegen.
„Ihr Narren!“ Wut und Schrecken in Arygos Stimme ließen den Moment in tausend Scherben zerbersten. „Ihr dummen Narren! Ihr seid diejenigen, die den Schwarm verraten haben, nicht ich!“
Bevor Thrall die Chance hatte, die Worte zu verdauen, warf Arygos den Kopf zurück und stieß einen schrecklichen Schrei aus. Thrall spürte, wie er ihn fast körperlich traf. Es lag mehr als Luft und Stimme in diesem Schrei. Darin steckte auch Magie und sie bebte durch Thralls Blut und Knochen und warf ihn auf die Knie.
... Ihr seid diejenigen, die den Schwarm verraten haben, nicht ich...
Er sah zu Kalecgos auf, dem neuen blauen Drachenaspekt, der immer noch hell strahlte vor arkaner Magie. Kalecgos war nun sichtbar größer als sein ehemaliger Rivale, der weniger wie ein glorreiches Wesen aussah, sondern mehr wie ein hässlicher Schmierfleck vor dem Nachthimmel. Immer noch strahlend, immer noch herrlich war Kalecgos nicht mehr ein freudvoller Herrscher, sondern ein rächender Gott. Er faltete die Flügel und stieß auf Arygos zu.
„Nein, Arygos! Ich werde nicht zulassen, dass du uns zerstörst!“
In diesem Moment erfüllte ein grässliches Geräusch die Luft – das Geräusch Dutzender mächtiger schlagender Flügel. Thralls Augen weiteten sich beim Anflug der Zwielichtdrachen. Sie waren wie dunkle Geister, lebendige Schatten in der Gestalt von Drachen, die auf die Feste der blauen Drachen zuhielten.
Die blauen Drachen reagierten mit für diese riesenhaften Wesen erschreckender Geschwindigkeit. Bevor Thrall etwas erkennen konnte, schossen sie schon in den Himmel und rasten auf den Feind zu. Der Nachthimmel wurde von weißen und hellblauen Eruptionen arkaner Energie erleuchtet. Thrall sah zu der Stelle auf, wo Kalec und Arygos in einen Kampf verstrickt waren.
„Kalec“, schrie Thrall und dachte, dass der neue Aspekt ihn unmöglich über die Geräusche der Schlacht hinweg hören konnte. Doch ihm war klar, dass er es trotzdem versuchen musste. „Pass auf!“
Einen schrecklichen Moment lang schien es nicht so, als habe Kalec ihn gehört. Dann, in allerletzter Sekunde, ließ er Arygos los und warf sich nach links. Drei der Zwielichtdrachen – obwohl Thrall nie einen gesehen hatte, wusste er, dass es sich um solche Geschöpfe handeln musste – hielten direkt auf Arygos zu. Zu Thralls Schreck wurden alle drei in letzter Sekunde feinstofflich und flogen harmlos durch ihren blauen Verbündeten hindurch, dann wirbelten sie herum, um sich erneut in die Schlacht zu werfen.
Thrall spürte den Drachen hinter sich eher, als dass er ihn hörte. Er wirbelte herum, zog den Schicksalshammer und packte ihn mit beiden Händen, seine Zähne waren gefletscht. Er würde ihn mit seinem ganzen Herzen führen und den Drachenschwarm beschützen, den er zu schätzen und respektieren gelernt hatte. Er war gekommen, um beim Heilen zu helfen.
Er würde die Drachen mit seinem Leben verteidigen.
Der Zwielichtdrache war schön und schrecklich. Er öffnete das Maul, zeigte seine Zähne, die fast so groß waren wie Thralls ganzer Körper. Seine Vorderbeine streckten sich ihm entgegen, die Klauen ausgefahren, um ihn zu packen und zu zerreißen, wenn das klaffende Maul ihn nicht schon vorher tötete.
Thralls Schlachtruf: „Für die Horde!“, kam ihm über die Lippen, doch er hatte ihn nicht gebrüllt. Er kämpfte nicht für die Horde, nicht mehr. Er kämpfte für so viel mehr – für die Allianz und den Irdenen Ring, für den Zirkel des Cenarius und die Zerschlagenen und die Drachenschwärme.
Er kämpfte für Azeroth.