„Todesschwinge schien nicht sehr zufrieden mit den Fortschritten zu sein, die du gemacht hast“, zischte Kirygosa eisig. „Du könntest der Nächste sein, nach meinem armen irregeführten Brud...“
Er zog an der Kette. Ihre Worte wurden zu einem gequälten Wimmern, als sich die Kette in ihren Hals brannte. „Ich würde meine Worte sorgfältiger wählen, Kleine.“
Sie bekam wieder Luft und einen verzweifelten Moment lang erschien ihr der drohende Tod süßer als eine Existenz als Werkzeug, das ihrem Schwarm schadete. Sie öffnete den Mund zu einer beleidigenden Antwort, als ein wildes, euphorisches Brüllen von einer aufgeregten Gruppe Kultisten unter ihnen ihr die Worte in der Kehle ersterben ließ.
Chromatus bewegte sich.
Nur ein wenig und schwer zu erkennen, aber eine Klaue öffnete und schloss sich. Der Rest von ihm lag da wie tot. Dann zuckte der mächtige Schwanz. Ein Kopf – der Schwarze – drehte sich.
Der Vater des Zwielichts lief zum Rand der Plattform. „Er lebt! Er lebt!“ Er ballte eine Faust und stieß sie in die Luft.
Die Gruppe unten jubelte noch lauter.
Die magische Nadel pulsierte. Ihre Energie bohrte sich in den belebten Körper. Mit jedem Moment, der verging, schien es Kirygosa, als würde das Monster stärker. Seine anderen Gliedmaßen begannen zu zucken. Einer nach dem anderen hoben sich die hässlichen Köpfe. Wie Tentakel eines riesigen Seeungeheuers zuckten und bewegten sie sich, sahen sich um, öffneten ihre Mäuler. Zehn Augen standen nun offen und ihre Farbe zeigte eine Übereinstimmung, die dem Rest des Drachen fehlte. Jedes Augenpaar war von hell leuchtendem Lila. Er war zwar am Leben und bewegte sich. Aber an einigen Stellen waren die Knochen zu sehen. Schuppen waren abgefallen, verwesende Haut darunter sichtbar geworden. Jedem der Köpfe schien etwas zu fehlen – ein Ohr, ein triefendes Auge...
„Chromatus!“, rief der Vater des Zwielichts. „Zu mir, mein Sohn, den ich geboren habe. Sieh mich an!“
Ein rotes Ohr zuckte. Grüne Nüstern leuchteten. Der bronzefarbene Kopf drehte sich langsam auf dem Hals. Einer nach dem anderen, zunächst noch unbeholfen, da ungeübt, folgten die Köpfe, bis alle fünf den Vater des Zwielichts ansahen.
„Unser... Vater“, sprach der bronzefarbene Kopf mit vornehmer Stimme, obwohl die Worte zunächst noch schwerfällig klangen.
Die lila Augen in dem blauen Kopf zogen sich zusammen, als ihr Blick auf Kirygosa fiel. Düsteres Gelächter dröhnte durch den blauen Kopf. Als er sprach, klang seine Stimme merkwürdig lieblich, auch wenn die Worte nur zögernd kamen.
„Hab keine Angst, kleine Blaue. Dein Bruder lebt – in mir. Wir spüren unsere Verwandtschaft.“ Die anderen Köpfe wandten sich ab, waren wenig interessiert an dem, was der blaue Kopf zu sagen hatte. „Auch du wirst dienen.“
„Niemals!“, schrie Kirygosa, deren Geist sich aufzulösen drohte angesichts der Schrecken, die sie gezwungen war mitanzusehen. „Die blauen Drachen werden dir niemals dienen! Nicht, solange Kalecgos sie anführt!“ Sie erwartete einen harten Zug an der Kette und wappnete sich gegen den scharfen Schmerz.
Stattdessen lachte der Vater des Zwielichts. „Verstehst du es denn immer noch nicht? Und ich dachte, die blauen Drachen wären intelligent!“
Sie wollte es nicht hören. Sie wollte es nicht verstehen. Aber sie bemerkte, wie ihre Lippen die Frage stellten: „Was verstehen?“
„Wofür er gemacht wurde!“
Kirygosa zwang sich, Chromatus anzusehen. Sie sah einen hässlichen chromatischen Drachen, wegen seiner fünf Köpfe schrecklicher als jeder andere, die...
„Nein“, flüsterte sie, als sie die Erkenntnis wie ein physischer Schlag traf. „Nein...“
„Jetzt... jetzt erkennst du es“, säuselte der Vater des Zwielichts, seine Stimme klang fröhlich. „Herrlich, nicht wahr, dieser kommende Untergang in all seiner Unausweichlichkeit! Es ist uninteressant, ob die blauen Drachen wieder einen Aspekt haben. Es ist uninteressant, ob Ysera erwacht ist oder ob Nozdormu gefunden wurde, selbst ob die Lebensbinderin zurückkehrt.“ Er presste die Lippen an ihr Ohr und flüsterte, als würde er ein besonders intimes Geheimnis verraten: „Chromatus lebt... damit die Aspekte sterben.“
Kirygosa verlor den letzten Halt, den sie vielleicht noch gespürt hatte. Sie warf sich auf den Vater des Zwielichts, schrie, kratzte und biss. Ihre einfache menschliche Attacke war seiner Magie nicht gewachsen – und der Kraft der Kette. Sie schrie ein einziges vergebliches Wort, als könne das die kommende Katastrophe verhindern.
„Nein!... Nein!... Nein!...“
„Ruhe!“, brüllte der Vater des Zwielichts und zerrte an der silbernen Kette.
Kiry stürzte und zuckte vor Schmerz.
„Ach nein“, fuhr der schwarze Kopf von Chromatus fort. Seine Stimme war seidig, zischend, kalt. Chromatus erhob sich langsam, aber seine Bewegungen wurden immer anmutiger, während er entdeckte, wie er seinen Körper kontrollieren konnte. „Lass die kleine Blaue ruhig reden. Es wird später umso süßer. Sie wird...“
Der rote Kopf unterbrach den schwarzen und wandte sich in Richtung Westen. Er bewegte sich ungelenk, immer noch nicht richtig vertraut mit seinem Körper. „Sie kommen“, schrie der Kopf mit klarer, kräftiger Stimme. „Ich bin noch nicht völlig erholt! Was hast du getan, Vater?“
Und Kirygosa begann zu lachen. Es schrillte ihr in den Ohren und sie wusste, dass es hysterisches Gelächter war, aber es sprudelte aus ihr heraus wie ein plötzlich gebrochener Damm. Sie hob einen zitternden Finger, wies auf die Zwielichtdrachen, die mit vollem Tempo auf den Tempel zuflogen, nicht weit dahinter ihr eigener blauer Schwarm.
„Du hast dich verrechnet!“, rief sie. „Der große Vater des Zwielichts mit all seinen wundervollen Plänen! Aber deine Drachen haben den Schwanz zu schnell eingezogen und mein Schwarm kommt, um euch zu vernichten, deine Abscheulichkeit und dich! Welchen Plan hast du nun, o weiser Mann?“
Der Vater des Zwielichts war so wütend, dass er sich gar nicht erst mit der Kette abgab. Seine behandschuhte Hand traf ihre Wange so hart, dass ihr Kopf zur Seite flog. Doch Kirygosa lachte immer noch und winkte mit den Armen.
„Kalecgos! Kalec!“
Und da war er!
Ihr Herz pochte. Weisheit und Mitgefühl hatten sich durchgesetzt. Der Aspekt der Magie war größer als jeder andere Drache und er trug in seinem strahlenden Licht eine kleine Gestalt auf dem Rücken. Es hatte lange gedauert, aber nun wurde all die Kraft weder von einem wahnsinnigen Geist geleitet noch von einem, der auf Rache und Verrat aus war. Tränen füllten ihre Augen und sie weinte vor Glück.
Er würde nicht sterben und auch keiner der anderen Aspekte. Sie schlugen endlich zu, bevor Chromatus sein volles vernichtendes Potenzial erreicht hatte.
Unter ihr warf Chromatus seine Köpfe zurück und brüllte, alle Stimmen – zischend, stark, melodisch – vereinten sich zu einer schrecklichen Symphonie. Das Monster stieß sich ab und flog hoch in den Himmel. Einen Augenblick lang wankte es, dann wurde sein Flügelschlag kräftiger und es griff an.
Kirygosa hatte vor allem in den letzten Monaten ihrer Gefangenschaft Albträume gehabt. Täglich war sie gefoltert worden, gefangen in ihrer menschlichen Gestalt. Dabei hatte sie auf den Tod gewartet. Ja, sie hatte viele Albträume durchlitten. Doch die waren nichts gegen die schreckliche Realität gewesen, die sie nun miterleben musste.
Chromatus bewegte sich ruckartig, wie eine Puppe, ein Ding, das niemals existieren dürfte. Doch er war sogar größer als der Aspekt Kalecgos. Und seine ungelenken Bewegungen liefen irgendwie schneller ab, seine brutalen Schläge waren tödlicher als die der lebendigen Drachen, egal, ob sie an seiner Seite oder gegen ihn kämpften. Er setzte mehr als physische Stärke und Beweglichkeit ein. Unter das Weiß arkaner Magie und das Lila der Zwielichtdrachenangriffe mischten sich andere Farben: das Rot vom Feuer der roten Drachen, eine smaragdgrüne Giftwolke der grünen Drachen: Chromatus kämpfte mit den Fähigkeiten aller anderen Drachenschwärme gleichzeitig.