Ihm war kalt, sein Körper wurde rasch taub, aber er stellte sich vor, wie er mit Aggra zusammen war – so lebhaft, warm und echt –, und befreite sich aus der Lethargie. Thrall zwang seine Lungen förmlich, zu arbeiten, die kalte Luft, so tief er konnte, einzuatmen, und klammerte sich an den Lebensgeist, der in ihm schlummerte.
Das war es, was den Schamanen die Verbindung mit den Elementen ermöglichte. Alle Wesen hatten diese Verbindung, doch nur die Schamanen verstanden sie und konnten sie nutzen. Einen Moment lang erschrak Thrall vor dem eigenen Versagen. Das war der Teil, mit dem er damals am Mahlstrom Probleme gehabt hatte. Er hatte vor den Mitgliedern des Irdenen Rings versagt. Thrall war zu abgelenkt gewesen und hatte sich nicht richtig konzentrieren, sich nicht tief genug in sich selbst versenken und das dort lauernde Wissen zutage fördern können.
Aber dieses Mal war er weder niedergeschlagen noch unkonzentriert. Er sah Aggras Gesicht wie eine Fackel in der Dunkelheit einer unbekannten Zukunft vor sich. Mit geschlossenen Augen erblickte er sie, lächelnd, mit einem Hauch Verspieltheit in ihren goldenen Augen, und hielt ihre Hand.
Diese starke Hand in deiner...
Oh, wie sehr er das wollte. Wie richtig es ihm jetzt erschien. Eigentlich war es nur eine kleine Sache, doch in seinem Herzen war sie größer als jede Furcht vor Tod und Zerstörung.
Und als er ihr und dem Geist des Lebens sein Herz öffnete, empfing er noch eine Vision.
Diese Vision stammte nicht von Aggra oder aus seinem eigenen Leben. Wie eine Szene in einem Theaterstück spielte sie sich in seinem Geist ab: Da war ein Held, ein Bösewicht, eine schockierende Enthüllung; Tragödie und Missverständnisse. Sein Herz, das Aggra immer noch vermisste, schmerzte nun nicht vor Zuneigung zu seiner Frau, sondern vor Mitgefühl, weil er diese Erfahrung teilte.
Dieses Wissen... Alexstrasza...
„Sie muss es erfahren“, flüsterte er und bewegte die kalten Lippen. „Ich muss sie finden und es ihr berichten.“
Am Ende waren es nur diese Verbindungen, die zählten. Am Ende waren sie alles, was zählte. Sie waren es, die Lieder und die Kunst inspirierten, den Antrieb, in die Schlacht zu ziehen, bildeten: die Liebe zum Land oder zur Kultur, zu einem Ideal oder einem Individuum. All das ließ die Herzen schlagen, bewegte Berge, formte die Welt. Und Thrall wurde durch beide Visionen klar, dass er und eine andere, die ebenso trauerte, wirklich tief und innig geliebt wurden. Geliebt für das, was sie waren, und nicht für das, was sie tun konnten. Und es war egal, welchen Titel der Macht sie trugen.
Aggra liebte Thrall für das, was er im Kern war, und er liebte sie auf die gleiche Art und Weise.
Alexstrasza war auch so geliebt worden und musste nur wieder daran erinnert werden. Thrall war tief in seinem Innern klar, dass er der Einzige war, der sie das wissen lassen konnte.
Der Geist des Lebens öffnete sich ihm. Er floss durch ihn, war warm und sanft, aber auch stark. Energie strömte durch beinahe erfrorene Gliedmaßen und er begann, sich den Weg durch den Schnee nach oben zu erkämpfen. Er arbeitete im Rhythmus seines eigenen Atems, machte nur kurz Pausen, um einzuatmen, und schob den Schnee beim Ausatmen fort. Er war ruhig und klar, konzentriert, wie er es noch nie zuvor gewesen war, sein Herz voll mit neuen Offenbarungen, die er unbedingt weitergeben musste.
Es war nicht leicht, aber der Geist des Lebens baute ihn auf – seine Energie war stark und gleichzeitig freundlich. Schließlich zog Thrall sich selbst aus dem Loch, setzte sich auf und kam zu Atem. Langsam stemmte er sich hoch und begann seine nächsten Schritte zu überdenken.
Seine Kleidung war durchnässt. Er brauchte Wärme, ein Feuer, und dann musste er seine nasse Kleidung ausziehen, bevor sie ihn umbrachte – und bei diesem Wetter würde das schnell geschehen. Er schaute sich nach irgendwelchen Drachen um, die nach ihm suchten, sah aber nichts am Himmel außer Wolken und den üblichen Vögeln. Er wusste nicht, wie lang er ohnmächtig gewesen war, aber die Schlacht war eindeutig vorbei – auf die eine oder andere Weise.
Schutz zuerst, dann Feuer. Er sah sich nach einem passenden Ort um. Dort drüben schien eine Höhle zu sein oder zumindest ein Hohlraum in den Felsen, ein dunklerer Fleck im Grau der Umgebung.
Und es war seine Zielgerichtetheit, seine Klarheit, nicht seine Sinne, die ihm einen Herzschlag später das Leben retteten.
Er wirbelte herum, den Schicksalshammer bereit, und konnte gerade noch rechtzeitig den Schlag abblocken, den der Schatten austeilte, der ihn schon so lange jagte.
Schwarzmoor!
Er trug die Teile der Plattenpanzerung, die Thrall nun klar erkannte, das leuchtende Breitschwert, das fast größer war als er selbst. Schwarzmoor setzte nach, dabei steckte etwas in ihm, das größer war als normale menschliche Stärke.
Doch diesmal war es anders.
Das erste Mal, als der dunkle Meuchelmörder aus den Schatten getreten war und derart unerwartet angegriffen hatte, dass er Desharins Kopf vom Körper trennen konnte, war Thrall vollkommen überrascht gewesen. Als Schwarzmoor ihm durch den Zeitweg gefolgt war und versucht hatte, das Kind Thrall zu töten, war er unsicher gewesen. Und als er die wahre Identität des geheimnisvollen Mörders entdeckte, bestürzt.
Die Tatsache, dass Schwarzmoor nicht nur lebte, sondern auch solche Kraft in sich trug, hatte Thralls Vertrauen in alles erschüttert, was er je getan hatte. Es hatte einen Schatten auf alles geworfen, was Thrall war. Alles, was er erreicht hatte, was er geworden war.
Doch nun fletschte Thrall die Zähne und ließ nicht zu, dass er von diesen Dingen dermaßen geschwächt wurde. Sein Körper war geheilt, aber immer noch halb erfroren, und er wusste, dass seine Bewegungen zu langsam waren, um sich ohne Hilfe verteidigen zu können.
Geist des Lebens, hilf mir, diesen Feind zu besiegen, der nicht leben sollte, damit ich deine Visionen zu all denen bringen kann, die davon wissen müssen!
Wärme durchflutete ihn, freundlich, doch mächtig, gewährte seinen Gliedern Kraft und Gelenkigkeit. Am Rande bekam Thrall mit, dass selbst seine Kleidung irgendwie getrocknet war. Eine tröstende Energie stärkte ihn. Er fragte nicht, nahm die Hilfe einfach dankbar an. Thrall griff an, ohne darüber nachzudenken, ließ Jahre der Erfahrung in Schlachten seine Hand leiten und landete Treffer auf Treffer auf der gestohlenen Rüstung, die Schwarzmoor zu tragen wagte. Der Mensch erschrak und sprang zurück, ging in Verteidigungshaltung und hielt das riesige Schwert bereit.
„Ich verstehe, warum ich dich ausbilden lassen wollte“, zischte Schwarzmoor, dabei erkannte Thrall seine Stimme, auch wenn Schwarzmoor einen Helm trug. „Du bist sehr gut... für eine Grünhaut.“
„Die Entscheidung, mich auszubilden, war schon einmal dein Tod, Aedelas Schwarzmoor, und sie wird es wieder sein. Du kannst das Schicksal nicht betrügen.“
Schwarzmoor lachte, ein lautes Geräusch voll echtem Spott. „Du bist aus einer unglaublichen Höhe gestürzt, Orc. Du bist verwundet und lebst kaum noch. Es ist dein Schicksal, hier im frostigen Norden zu sterben, nicht meines, von dir getötet zu werden. Auch wenn du bemerkenswert stark warst, wird es ein Genuss sein, dich zu zermalmen. Doch ich fürchte, ich muss mich noch um andere Angelegenheiten kümmern. Fleischfetzer hat sich schon seit einer Weile nicht mehr gelabt. Ich mache es kurz.“
Er betonte den Namen, als wolle er Thrall die Furcht direkt ins Herz stechen. Stattdessen lachte der Orc.
Schwarzmoor runzelte die Stirn. „Was amüsiert dich so im Augenblick deines Todes?“
„Daran bist du schuld“, sagte Thrall. „Der Name deines Schwertes ist einfach lächerlich.“
„Lächerlich? Das sollte er nicht sein. Es hat tatsächlich das Fleisch derjenigen zerfetzt, die ich getötet hatte!“
„Oh, natürlich“, sagte Thrall. „Doch es ist so primitiv – so plump und ungebildet. So, wie du tief in deinem Innern bist. Was du so verzweifelt vermeiden wolltest.“