Выбрать главу

Die erste Massentierhalterin

1923 ERLEBTE DIE HAUSFRAU CELIA STEELE aus Ocean View auf der Halbinsel Delmarva (Delaware, Maryland und Virginia) ein fast schon lustiges Missgeschick und gab damit weltweit die Initialzündung für die moderne Geflügelindustrie und die industrielle Landwirtschaft. Steele, die die kleine Geflügelschar ihrer Familie versorgte, erhielt angeblich eine Lieferung von 500 Küken statt der 50, die sie bestellt hatte. Aber statt sie irgendwie loszuwerden, beschloss sie auszuprobieren, ob sie die Tiere im Winter drinnen halten konnte. Mithilfe neu entwickelter Futterzusätze überlebten die Vögel, und sie experimentierte weiter. 1926 besaß Steele bereits 10 000 Vögel, und 1935 waren es 250 000. (Die durchschnittliche Größe einer Schar lag 1930 in Amerika bei 23 Tieren.)

Nur zehn Jahre nach Steeles Durchbruch war die Halbinsel Delmarva das Geflügelzentrum der Welt. Sussex County in Delaware produziert heute mehr als 250 Millionen Masthühnchen im Jahr, fast doppelt so viele wie jedes andere County. Geflügelproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig der Region und der wichtigste Verschmutzungsfaktor. (Ein Drittel des Grundwassers in den ländlichen Gebieten von Delmarva ist nitratverseucht.)

Eng zusammengepfercht und monatelang ohne Tageslicht und Bewegung hätten Steeles Vögel niemals überlebt, wenn man nicht kurz zuvor die positive Wirkung von Vitamin-Aund – D-Zusätzen im Hühnerfutter entdeckt hätte. Steele hätte die Küken auch gar nicht bestellen können, wenn nicht schon zuvor Brütereien mit Brutkästen aufgekommen wären. Unzählige Kräfte – Generationen von Technologien – wurden gebündelt und verstärkten einander auf unerwartete Weise.

1928 versprach Herbert Hoover »ein Huhn für jeden Topf«. Das Versprechen sollte eingehalten und übertroffen werden, aber nicht so, wie sich das irgendjemand vorgestellt hatte. Anfang der 1930er-Jahre traten Architekten der Massentierhaltung wie Arthur Perdue und John Tyson ins Geflügelgeschäft ein. Sie förderten die neu entstehende moderne industrielle Landwirtschaftswissenschaft und brachten bis zum Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe von »Innovationen« in die Geflügelproduktion ein. Mit staatlicher Förderung produzierte Hybridgetreide waren ein billiges Futter, das schon bald über Fließbänder automatisch zu den Tieren gebracht wurde. Das Schnabelkürzen – das normalerweise bei frisch geschlüpften Küken mit einer heißen Klinge durchgeführt wird – wurde erfunden und dann automatisiert (der Schnabel ist das wichtigste Tastorgan des Huhns). Automatische Beleuchtung und Belüftung ermöglichten eine noch dichtere Belegung der Ställe und schließlich die inzwischen übliche Manipulation des Wachstums durch kontrollierte Beleuchtung.

Jeder Aspekt des Hühnerlebens wurde so manipuliert, dass die Tiere bei weniger Kosten mehr Fleisch produzieren. Und dann war es Zeit für den nächsten Durchbruch.

Das erste

Chicken of Tomorrow

1946 RICHTETE DIE GEFLÜGELINDUSTRIE den Blick auf die Genetik und schrieb mit Unterstützung des Agrarministeriums einen Wettbewerb um das »Chicken of Tomorrow« (»Huhn von morgen«) aus. Der Sieger war eine Überraschung: Charles Vantress aus Marysville, Kalifornien. (Bis dahin waren die meisten Zuchtrassen aus Neuengland gekommen.) Vantress’ rotfedrige Kreuzung aus Cornish-und New-Hampshire-Huhn führte das Cornish in die Zucht ein, das einer Fachzeitschrift der Industrie zufolge für »die breitbrüstige Erscheinung« sorgte, die »bald nach dem Krieg vom Markt verlangt werden würde«.

In den 1940er-Jahren wurden außerdem Sulfonamid und Antibiotika im Hühnerfutter eingeführt, um das Wachstum zu fördern und Krankheiten einzudämmen, die durch das Leben in Gefangenschaft aufkamen. Futter-und Medikamentenpläne für die »Hühner von morgen« wurden weiterentwickelt, und ab den 1950er-Jahrengab es nicht mehr »das Huhn«, sondern es gab zwei ganz unterschiedliche Sorten – eine für Eier, eine für Fleisch.

Die Genetik der Hühner wurde ebenso gründlich manipuliert wie ihr Futter und ihre Umgebung, damit sie entweder große Mengen Eier produzierten (Legehennen) oder Fleisch, vor allem Brustfleisch (Masthühner). Zwischen 1935 und 1995 stieg das Durchschnittsgewicht eines Masthuhns um 65 Prozent, während seine Lebensdauer bis zur Schlachtung um 60 Prozent verkürzt und der Futterbedarf um 57 Prozent gesenkt wurde. Zur Verdeutlichung, wie radikal diese Veränderungen waren, stellen Sie sich vor, ein Kind ernährt sich ausschließlich von Müsliriegeln und Vitamintabletten und wächst in zehn Jahren auf 140 Kilo heran.

Diese Manipulation der Genetik des Huhns war nicht nur ein Punkt unter vielen: Sie legte auch fest, wie die Vögel gehalten werden mussten. Nach den genetischen Veränderungen wurden Medikamente nicht mehr allein wegen des Profits eingesetzt, sondern anders wären die Vögel schlicht nicht mehr »gesund« gewesen, und in Freiheit hätten sie vielleicht nicht mal überlebt.

Noch schlimmer ist, dass diese genetisch grotesken Vögel nicht nur einen Teil der Industrie ausmachen – sie sind praktisch die einzigen Hühner, die noch zum Verzehr gezüchtet werden. Es gab in Amerika einmal Dutzende Hühnerrassen (zum Beispiel Jersey Giants, New Hampshire, Plymouth Rock), die jeweils an die Bedingungen in ihrer Region angepasst waren. Jetzt haben wir nur noch Fabrikhühner.

In den 1950er-und 1960er-Jahren erreichten die Geflügel-unternehmen die totale vertikale Integration. Sie besaßen den Genpool (heute sind drei Viertel der Genetik sämtlicher Masthühner der Welt in der Hand von zwei Firmen), die Vögel selbst (die Farmer versorgen sie nur wie Betreuer im Ferienlager), die benötigten Medikamente, Futter, Schlachthäuser, Verarbeitungsbetriebe und Handelsmarken. Nicht nur die Technik hatte sich verändert: Die Artenvielfalt wurde durch genetische Einheitlichkeit ersetzt, das Studienfach »Viehzucht« wurde in »Tierwissenschaften« umbenannt, ein Geschäftsbereich, der einst vornehmlich von Frauen betrieben wurde, wurde von Männern übernommen, und fachkundige Farmer wurden durch Lohnarbeiter ersetzt. Niemand hat einen Startschuss für das Rennen an den Tiefpunkt abgefeuert. Die Erde hat sich nur ein wenig geneigt, und alle sind in den Abgrund gerutscht.

Der erste Massentierhaltungsbetrieb

DER INDUSTRIELLE BETRIEB war eher ein Vorfall als eine Innovation. Kahle Sicherheitsstreifen verdrängten Weiden, Gebäudekomplexe für die Massentierhaltung wurden hochgezogen, wo vorher Scheunen standen, und genetisch manipulierte Tiere – Vögel, die nicht fliegen können, Schweine, die nicht draußen leben können, Puten, die sich nicht auf natürlichem Wege fortpflanzen können – ersetzten die einst vertraute Gemeinschaft auf dem Bauernhof.

Was bedeuten diese Veränderungen? Jacques Derrida ist einer der ganz wenigen zeitgenössischen Philosophen, die sich mit dieser unbequemen Frage beschäftigt haben. »Wie auch immer man es interpretiert«, sagt er, »welche praktischen, technischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, ethischen oder politischen Konsequenzen man auch daraus zieht, niemand kann die beispiellosen Ausmaße der Unterwerfung des Tieres mehr leugnen.« Und er fährt fort:

Eine solche Unterwerfung … kann man im moralisch neutralsten Sinne des Wortes Grausamkeit nennen. … Niemand kann ernsthaft leugnen, oder zumindest nicht sehr lange, dass der Mensch alles tut, um diese Grausamkeit zu verbergen oder vor sich selbst zu verstecken, um auf der ganzen Welt dafür zu sorgen, dass diese Gewalt vergessen oder missverstanden wird.

Amerikanische Geschäftsleute haben im 20. Jahrhundert allein oder gemeinsam mit der Regierung und wissenschaftlichen Institutionen eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Revolutionen geplant und durchgeführt. Sie setzten den frühmodernen philosophischen Ansatz (der vor allem von Descartes verfochten wurde), Tiere als Maschinen anzusehen, in die Tat um – mit Tausenden, dann Millionen, inzwischen Milliarden Tieren.