PARADISE LOCKER MEATS lag früher etwas näher am Smithville Lake im Nordwesten Missouris. Die ursprüngliche Anlage brannte 2002 nieder, als in der Schinkenräucherei ein Feuer ausbrach. Im neuen Gebäude hängt ein Gemälde vom alten, auf dem eine Kuh sich durch den Hintereingang davonmacht. Diese Szene geht auf eine tatsächliche Begebenheit zurück: Vier Jahre vor dem Feuer, im Sommer 1998, entkam eine Kuh aus dem Schlachthof. Sie rannte meilenweit – und das allein wäre schon eine bemerkenswerte Geschichte. Doch dies war keine gewöhnliche Kuh. Sie überquerte Straßen, trampelte Zäune nieder oder überwand sie auf andere Weise, entkam den Farmern, die nach ihr suchten. Als sie ans Seeufer gelangte, kehrte sie nicht um, dachte nicht lange nach oder hielt die Hufe prüfend ins Wasser. Sie versuchte, sich schwimmend zu retten – der zweite Teil ihres Triathlons –, wenn es denn Rettung gab. Zumindest schien sie zu wissen, wovor sie floh. Mario Fantasma – der Besitzer von Paradise Locker Meats – wurde von einem Freund angerufen, der den Sprung der Kuh ins Wasser gesehen hatte. Die Flucht endete schließlich, als Mario sie auf der anderen Seeseite erwischte. Bumm, bumm, Vorhang. Ob man das als Komödie oder Tragödie sieht, hängt davon ab, wen man für den Helden der Geschichte hält.
Patrick Martins, Mitbegründer des Edelfleischvertriebs Heritage Foods, erzählte mir von diesem Ausbruchsversuch. Er verschaffte mir auch Kontakt zu Mario. »Erstaunlich, wie viele Leute bei einem spektakulären Ausbruch mitfiebern«, schrieb Patrick zu dieser Geschichte in seinem Blog. »Ich habe überhaupt kein Problem, Fleisch zu essen, trotzdem würde ich gern von einem Schwein hören, das abhauen konnte und vielleicht sogar im Wald eine Kolonie freier und wilder Schweine gegründet hat.« Für Patrick hat die Geschichte zwei Helden und ist daher sowohl Komödie als auch Tragödie.
Fantasma klingt wie ein ausgedachter Name, weil es einer ist. Marios Vater wurde auf einer Türschwelle in Kalabrien abgelegt. Die Familie nahm das Kind auf und gab ihm den Nachnamen »Gespenst«.
Mario hat jedoch ganz und gar nichts Geisterhaftes an sich. Seine körperliche Präsenz ist eindrucksvoll – »ein Nacken wie ein Stier und Arme wie Schinkenschlegel«, so beschrieb ihn Patrick –, und er spricht laut und geradeheraus. Bestimmt weckt er ständig unabsichtlich schlafende Babys. Ich fand seine Art ungeheuer angenehm, besonders im Vergleich zu den anderen Schlachtern, mit denen ich geredet (oder zu reden versucht) hatte und die geschwiegen hatten und ausgewichen waren.
Montag und Dienstag sind bei Paradise Schlachttage. Mittwochs und donnerstags wird zerlegt, entbeint und verpackt, und freitags können die Leute aus der Gegend ihre Tiere schlachten und/oder zerlegen lassen. (Mario erzählte mir: »Während der Jagdsaison kriegen wir in einem Zeitraum von zwei Wochen zwischen 500 und 800 Hirsche. Da wird es ziemlich wild hier.«) Heute ist Dienstag. Ich parke, schalte den Motor aus und höre Quieken.
Durch die Eingangstür von Paradise gelangt man in einen kleinen Verkaufsraum mit Kühlregalen an den Wänden, worin einige Produkte liegen, die ich schon gegessen habe (Schinken, Steaks), andere, die ich noch nie bewusst verzehrt habe (Blut, Schweineschnauze), und manche, die ich nicht kenne. Weiter oben an den Wänden hängt Ausgestopftes, zwei Hirschköpfe, ein Longhorn-Rind, ein Widder, Fische, außerdem mehrere Geweihe. Weiter unten Buntstiftbotschaften von Grundschülern: »Vielen Dank für die Schweineaugäpfel. Es hat Spaß gemacht, sie aufzuschneiden und die Teile des Auges kennenzulernen!« »Sie waren zwar schleimig, aber ich hatte viel Spaß damit!« »Danke für die Augen!« Neben der Registrierkasse steht ein Visitenkartenhalter, in dem ein halbes Dutzend Tierpräparatoren und eine schwedische Masseuse ihre Dienste anbieten.
Paradise Locker Meats ist eine der letzten Bastionen unabhängiger Schlachthöfe im Mittelwesten, ein Gottesgeschenk für die regionalen Viehzüchter. Die großen Agrarkonzerne haben so gut wie alle aufgekauft und geschlossen und die Farmer in ihr System hineingezwungen. Kleinere Kunden – also Farmer, die keine Massentierhaltung betreiben – müssen dort fürs Schlachten eine Zusatzgebühr bezahlen (wenn der Schlachthof ihre Tiere überhaupt annimmt, was immer fraglich ist), und sie können kaum Einfluss darauf nehmen, wie ihre Tiere behandelt werden.
Paradise hat während der Jagdsaison zu allen Tageszeiten telefonische Anfragen von Leuten aus der Gegend. Hier gibt es im Laden Dinge, die im Supermarkt nicht mehr zu bekommen sind – Fleisch am Knochen zum Beispiel, Kundenwünschen gemäß zerlegte Fleischstücke, eine Räucherkammer –, und bei Kommunalwahlen fungiert der Raum auch mal als Wahllokal. Paradise ist für Sauberkeit, fachmännische Schlachtung und Einhaltung der Tierschutzbestimmungen bekannt. Kurz gesagt ist es wohl der »idealste« Schlachthof, der sich finden lässt, und damit statistisch ganz und gar nicht repräsentativ für das Schlachtgewerbe. Wollte man bei einem Besuch von Paradise das industrielle Hochleistungsschlachthaus verstehen, wäre das ungefähr so, als wollte man den Kraftstoffverbrauch eines Geländewagens einschätzen, indem man das Fahrradfahren in Augenschein nimmt (schließlich sind beides Transportarten).
Die Anlage ist in verschiedene Einheiten unterteilt – den Laden, das Büro, zwei riesige Kühlhäuser, eine Räucherkammer, einen Fleischerraum, einen Pferch hinterm Gebäude, wo die Tiere aufs Schlachten warten –, doch das eigentlicheTöten und erste Zerlegen findet in einem einzigen großen Saal mit hoher Decke statt. Mario lässt mich einen weißen Papieroverall überziehen und eine Kappe aufsetzen, ehe ich durch die Schwingtüren gehen darf. Er deutet mit der fleischigen Hand in die hintere Ecke des Schlachtraums und erklärt die Vorgehensweise: »Der Kerl dahinten bringt die Schweine rein. Dann setzt er den Schocker an [ein Betäubungsgerät, das Tiere mithilfe eines Stromstoßes rasch bewusstlos macht]. Wenn sie betäubt sind, ziehen wir sie mit der Winde hoch, stechen sie und lassen sie ausbluten. Ziel ist – wozu wir auch nach dem Gesetz verpflichtet sind –, dass das Tier sofort zu Boden geht und nicht mehr die Augen aufschlägt. Es muss außer Gefecht gesetzt sein.«
Im Gegensatz zu den riesigen Massenschlachthöfen, wo die Zerlegemaschinerie ununterbrochen weiterläuft, werden die Schweine bei Paradise eins nach dem anderen verarbeitet. Es werden auch keine Hilfsarbeiter eingestellt, die ihren Job meist nicht mal ein Jahr machen; hier arbeitet unter anderem Marios Sohn im Schlachtraum. Die Schweine werden aus halb im Freien liegenden Gehegen hinterm Gebäude in einen mit Gummi verkleideten engen Gang getrieben, der zum Tötungsbereich im Schlachtraum führt. Sobald ein Schwein in dem Gang ist, fällt die Tür hinter ihm zu, sodass die dahinter wartenden Schweine nicht zu sehen bekommen, was geschieht. Das ist nicht nur human, sondern auch praktisch: Ein Schwein, das den Tod fürchtet – oder wie man seine Panik auch beschreiben möchte –, ist schwer zu bändigen, vielleicht sogar gefährlich. Und Stress mindert bekanntlich die Qualität des Fleisches.
Neben der Tür für das Schwein befindet sich eine Tür für den Arbeiter, der, nachdem er das Schwein in den Gang getrieben hat, den Tötungsbereich, der zum Teil durch Wände vom Rest des Schlachtsaals abgetrennt ist, ebenfalls betritt.
In dieser versteckten Ecke steht ein gewaltiger Apparat, der das Tier, wenn es hereinkommt, für kurze Zeit so festhält, dass es sich nicht bewegen kann, damit der »Knocker« – der Arbeiter mit dem Betäubungsgerät, dem »Schocker« – den Stromstoß auf der Schädeldecke des Schweins setzen kann, sodass es im Idealfall sofort das Bewusstsein verliert. Niemand will mir einen Grund dafür nennen, wieso dieser Apparat und seine Funktion vor allen Blicken außer denen des Knockers verborgen werden müssen, aber Vermutungen drängen sich auf. Sicherlich sollen die anderen Angestellten ihrer Arbeit nachgehen können, ohne ständig daran erinnert zu werden, dass sie Wesen zerlegen, die eben noch lebendig waren. Wenn das Schwein in ihr Blickfeld kommt, ist er oder sie schon ein Ding.