Eine nette Geschichte, eine beunruhigende Geschichte und eine, die absolut keinen Sinn ergibt. Wie sollte die Kuh ihn an die Wand gedrückt haben? Das kann nicht sein, so wie die Anlage gebaut ist. Und was war mit den Schlachthofmitarbeitern? Was haben die derweil gemacht? Immer wieder habe ich gehört, in den größten wie den kleinsten Schlachthöfen, wie wichtig es ist, alles am Laufen zu halten. Wieso sollte man bei Paradise eine 20-minütige Unterbrechung tolerieren?
War das seine Antwort auf meine Frage, ob er schon mal ein Tier verschonen wollte?
Zeit zu gehen. Ich möchte noch mehr Zeit mit Mario und seinen Angestellten verbringen. Das sind nette Leute, stolze, gastfreundliche Menschen – Menschen, wie man sie wohl leider in der Landwirtschaft nicht mehr lange finden wird. 1967 gab es noch über eine Million Schweinefarmen im Land. Heute ist es nicht einmal mehr ein Zehntel, und allein in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Schweinemastbetriebe um über zwei Drittel zurückgegangen. (Vier Unternehmen produzieren inzwischen 60 Prozent des Schweinefleischs in Amerika.)
Das ist Teil eines umfassenderen Wandels. 1930 war noch über ein Fünftel der amerikanischen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Heute sind es noch zwei Prozent. Und das, obwohl sich die landwirtschaftliche Produktion zwischen 1820 und 1920 verdoppelt hat, zwischen 1950 und 1965 erneut, ebenso zwischen 1965 und 1975, und sich in den nächsten zehn Jahren noch einmal verdoppeln wird. 1950 produzierte ein Farmer genug, um 15,5 Verbraucher zu versorgen. Heute versorgt er 140. Das ist eine deprimierende Entwicklung, nicht nur für die Gemeinden, die genau wussten, was sie an ihren kleinen und mittleren Farmern hatten, sondern auch für die Farmer selbst. (Amerikanische Farmer sind viermal so selbstmordgefährdet wie der Durchschnitt der Bevölkerung.) Heutzutage ist so gut wie alles – Futter, Wasser, Beleuchtung, Heizung, Belüftung, sogar das Schlachten – automatisiert. Die einzigen Arbeitsplätze, die in der Massentierhaltung entstehen, sind entweder bürokratische Schreibtischjobs (wenige) oder ungelernte, gefährliche und schlecht bezahlte Hilfsjobs (viele). In der Massentierhaltung gibt es keine Farmer.
Vielleicht spielt das auch keine Rolle. Die Zeiten ändern sich. Vielleicht ist die Vorstellung vom sachkundigen Farmer, der sich um seine Tiere und unser Essen kümmert, reine Nostalgie, wie die von der Telefonistin, die unsere Gespräche durchstellt. Und vielleicht rechtfertigt das, was wir im Tausch dafür bekommen, Farmer gegen Maschinen, dieses Opfer.
»So können wir Sie nicht gehen lassen«, sagt eine der Arbeiterinnen. Sie verschwindet ein paar Sekunden und kommt mit einem Pappteller zurück, auf dem sich ein Berg rosaroter Schinkenscheiben türmt. »Was wären wir denn für Gastgeber, wenn wir unseren Gast nicht mal kosten ließen?«
Mario nimmt eine Scheibe und steckt sie sich in den Mund.
Ich will das nicht essen. Ich will im Augenblick überhaupt nichts essen, die Bilder und Gerüche des Schlachthofs haben mir den Appetit geraubt. Und ganz bestimmt will ich nicht essen, was da auf dem Teller liegt, denn das war vor nicht allzu langer Zeit Teil eines Schweins draußen im Gehege. Vielleicht ist gar nichts dabei, es zu essen. Aber irgendwas tief in meinem Bewusstsein – ob vernünftig oder unvernünftig, ob ästhetisch oder ethisch, ob egoistisch oder mitfühlend – will dieses Fleisch nicht in meinem Körper haben. Für mich ist dieses Fleisch nicht zum Verzehr geeignet.
Aber etwas anderes tief in meinem Bewusstsein will das Fleisch essen. Ich möchte Mario sehr gern zeigen, wie sehr ich seine Großzügigkeit zu schätzen weiß. Und ich möchte ihm sagen können, dass aus seiner harten Arbeit leckeres Essen wird. Ich möchte sagen: »Toll! Schmeckt großartig!«, und noch ein Stück nehmen. Ich möchte »das Brot mit ihm brechen«. Nichts – kein Gespräch, kein Handschlag, nicht mal eine Umarmung – besiegelt Freundschaft so deutlich wie gemeinsames Essen. Vielleicht ein kulturelles Phänomen. Vielleicht ein Nachhall der gemeinschaftlichen Mahlzeiten unserer Vorfahren.
Und darum geht es in gewisser Hinsicht auf einem Schlachthof. Vor mir auf dem Teller liegt der Zweck, der die blutigen Mittel nebenan zu heiligen verspricht. So etwas habe ich immer wieder von Menschen gehört, die Tiere zum Verzehr aufziehen, und nur so lässt sich die Gleichung aufmachen: Das Essen – wie es schmeckt, wozu es dient – rechtfertigt den Prozess, der es auf den Teller gebracht hat, oder eben nicht.
Für einige Menschen wäre er in diesem Fall gerechtfertigt. Nicht für mich.
»Ich lebe koscher«, sage ich.
»Koscher?«, fragt Mario nach.
»Genau.« Ich gluckse. »Ich bin Jude. Und lebe koscher.«
Der ganze Raum verstummt, als müsste die Luft selbst diese neue Information verarbeiten.
»Irgendwie komisch, dann über Schweinefleisch zu schreiben«, sagt Mario. Ich habe keine Ahnung, ob er mir glaubt, ob er mich versteht und ich ihm leidtue oder ob er mir misstraut und beleidigt ist. Vielleicht weiß er, dass ich lüge, aber versteht mich und ich tue ihm leid. Alles scheint möglich. »Ja, irgendwie komisch«, wiederhole ich. Ist es aber nicht.
2.
Albträume
DIE SCHWEINE, die bei Paradise Locker Meats geschlachtet werden, kommen meist von den wenigen übrig gebliebenen Schweinefarmen im Land, die noch keine Massentierhaltung betreiben. Das Fleisch, das in so gut wie jedem Supermarkt und Restaurant angeboten wird, stammt aus Massentierhaltung, die inzwischen 95 Prozent des amerikanischen Schweinefleischs produziert. (Zum Zeitpunkt der Niederschrift gab das mexikanische Schnellrestaurant Chipotle als einzige landesweite Kette an, einen beträchtlichen Teil seines Schweinefleischs aus artgerechter Tierhaltung zu beziehen.) Wenn man nicht bewusst nach Alternativen sucht, kann man ziemlich sicher sein, dass der Schinken, die Speckstreifen, das Kotelett auf dem Teller aus Massentierhaltung stammen.
Der Unterschied zwischen dem Leben eines Schweins aus Massentierhaltung – mit Antibiotika vollgepumpt, verstümmelt, auf engstem Raum eingepfercht und jedes Sinnenreizes beraubt – und dem eines Schweins, das auf einem gut geführten Betrieb aufwächst, wo traditionelle Tierhaltungsmethoden mit besten Neuentwicklungen kombiniert werden, ist erstaunlich. Man wird kaum einen besseren Schweinefarmer finden als Paul Willis, Speerspitze der Bewegung zur Erhaltung der traditionellen Schweinezucht (und Leiter der Schweinefleischabteilung von Niman Ranch, dem einzigen landesweiten Anbieter von Fleisch aus traditioneller Haltung), und man wird kaum ein offensichtlich gewissenloseres Unternehmen finden als Smithfield, den größten Schweinefleischproduzenten des Landes.
Ich war versucht, in diesem Kapitel zunächst die Hölle der Fleischfabriken von Smithfield zu beschreiben, um dann die relative Idylle der besten traditionellen Betriebe anzuschließen. Aber diese Reihenfolge würde suggerieren, dass sich die Schweinefleischindustrie insgesamt in Richtung mehr Tierschutz und Umweltbewusstsein bewegt, während doch genau das Gegenteil zutrifft. Es gibt keine »Rückkehr« zur guten alten Schweinezucht. Die »Bewegung« in Richtung traditioneller Familien-betriebe gibt es zwar wirklich, doch besteht sie vor allem aus alteingesessenen Farmern, die langsam lernen, sich besser zu vermarkten und zu behaupten. In den USA expandiert immer noch die Massenschweinehaltung, deren weltweites Wachstum sich sogar noch aggressiver darstellt.
Unsere guten alten wohlmeinenden Versuche
ALS ICH MEINEN WAGEN in Thornton, Iowa, vor Paul Willis’ Farm parkte, von wo dieser die Schweinefleischproduktion für Niman Ranch mit ungefähr 500 anderen kleineren Betrieben koordiniert, war ich ein wenig verwirrt. Paul hatte gesagt, ich sollte in sein Büro kommen, aber ich sah bloß ein unscheinbares Backsteinhaus und ein paar landwirtschaftlich genutzte Gebäude. Es war noch morgendlich still, und eine schmächtige weiß-braune Hofkatze kam auf mich zu. Ich schlenderte umher und suchte nach irgendetwas, das meiner Vorstellung von Büro nahekäme, als Paul zu Fuß vom Feld kam, einen Kaffee in der Hand und mit einem gefütterten blauen Overall bekleidet, dazu eine kleine Mütze, die sein kurz geschorenes graubraunes Haar