Und schließlich ist da auch noch meine sichtbare Familie. Jetzt, nach Abschluss meiner Recherchen, werde ich nur noch in seltenen Ausnahmefällen einem Nutztier in die Augen schauen. Doch viele Tage meines zukünftigen Lebens werde ich vielmals am Tag meinem Sohn in die Augen schauen.
Der Entschluss, keine Tiere mehr zu essen, ist für mich notwendig, aber er ist auch begrenzt und persönlich. Eine Entscheidung, die nur im Kontext meines Lebens und keines anderen fällt. Bis vor ungefähr 60 Jahren wären meine Begründungen größtenteils völlig unverständlich geblieben, denn die industrielle Tierproduktion, auf die ich Bezug nehme, war längst nicht so dominant wie heute. Wäre ich zu anderen Zeiten geboren, wäre ich vielleicht auch zu anderen Schlüssen gelangt. Dass ich die Wahl treffe, keine Tiere mehr zu essen, bedeutet nicht, dass ich ganz allgemein dagegen bin, Tiere zu essen, oder auch nur gemischte Gefühle dazu habe. Man kann entschieden dagegen sein, einem Kind durch Schläge »eine Lektion zu erteilen«, und dennoch starke elterliche Autorität befürworten. Wenn ich beschließe, mein Kind auf eine bestimmte Weise zu erziehen und nicht auf eine andere, so will ich diese Entscheidung nicht notwendigerweise anderen Eltern aufdrängen. Wer für sich selbst und seine Familie entscheidet, meint damit nicht unbedingt das ganze Land oder die Welt.
Doch wenn ich es auch für einen Wert an sich halte, wenn wir alle unsere persönlichen Gedanken und Entscheidungen über das Essen von Tieren aussprechen, so habe ich dieses Buch doch nicht nur geschrieben, um am Ende zu einem persönlichen Entschluss zu gelangen. Die Landwirtschaft wird nicht nur durch unsere Nahrungsentscheidungen beeinflusst, sondern auch durch politische Beschlüsse. Es reicht nicht, seinen persönlichen Speiseplan umzustellen. Doch wieweit bin ich bereit, meine eigenen Vorstellungen und Ansichten über bestmögliche Tierhaltung zu propagieren? (Ich esse zwar Pauls und Franks Produkte nicht, doch meine aktive Unterstützung für die Art der Landwirtschaft, die sie betreiben, wird von Tag zu Tag entschlossener.) Was erwarte ich von anderen? Was sollten wir alle voneinander erwarten, wenn es um die Frage geht, ob und wie wir Tiere essen?
Es liegt auf der Hand, dass meine Gegnerschaft zur Massentierhaltung nicht bloß persönlicher Abneigung entspringt, doch was daraus folgt, ist weniger eindeutig. Sollten alle Menschen immer alle Produkte aus Massentierhaltung boykottieren, weil diese tierquälerisch und verheerend für die Umwelt ist und Ressourcen verschwendet? Kann das Problem nicht allein durch unsere persönlichen Konsumentscheidungen gelöst werden, bedarf es gesetzgeberischer und gemeinsamer politischer Anstrengungen?
An welcher Stelle sollte ich respektvoll gegensätzliche Meinungen akzeptieren, und wo muss ich um grundlegender Werte willen unnachgiebig bleiben und andere auffordern, meine Haltung zu unterstützen? Wo lassen die unstrittigen Fakten vernünftigen Menschen noch Raum, anderer Ansicht zu sein, und wo verlangen sie von uns allen Taten? Ich bestehe nicht darauf, dass es immer und für alle Menschen falsch ist, Fleisch zu essen, oder dass die Fleischproduktion – trotz ihres beklagenswerten Zustands – nicht zu retten ist. Welche Haltung zum Essen von Tieren lässt sich mit menschlichem Anstand vereinbaren? Worauf würde ich bestehen?
Weniger als ein Prozent aller für die Fleischproduktion geschlachteten Tiere in den USA stammt von Familienbetrieben.
1.
Bill und Nicolette
DIE STRASSEN, DIE MICH AN MEIN ZIEL FÜHRTEN, hatten keine Fahrbahnmarkierung, und die meisten hilfreichen Wegweiser waren von Einheimischen umgeworfen worden. »Es gibt keinen Grund, nach Bolinas zu kommen«, formulierte es ein Einwohner der Gemeinde in einem unfreundlichen Artikel in der New York Times. »Die Strände sind dreckig, die Feuerwehr ist eine Katastrophe, die Eingeborenen sind feindselig und haben einen Hang zum Kannibalismus.«
Nicht ganz. Die 50 Kilometer Küstenstraße nordwärts von San Francisco sind pure Naturromantik – atemberaubende Panoramen und geschützte natürliche Buchten wechseln sich ab –, und als ich endlich in Bolinas (2500 Einwohner) war, konnte ich mir kaum noch erklären, wieso Brooklyn (2 500 000 Einwohner) für mich jemals ein schöner Ort zum Leben war, und umso leichter begreifen, wieso diejenigen, die irgendwie nach Bolinas geraten sind, alle anderen daran hindern wollen.
Das ist einer der beiden Gründe, wieso es so überraschend ist, dass Bill Niman mich so bereitwillig zu sich nach Hause eingeladen hatte. Der andere Grund ist sein Beruf: Rinderrancher.
Eine stahlgraue Dänische Dogge, größer und ruhiger als mein Hund George, kam als Erste auf mich zu, dann folgten Bill und seine Frau Nicolette. Nach den üblichen Begrüßungen ließen sie mich in ihr bescheidenes Heim, das sich wie ein Bergkloster an den Hang schmiegte. Moosige Felsbrocken ragten aus der schwarzen Erde, dazwischen leuchtend bunte Blumenbeete und Sukkulenten. Über eine sonnendurchflutete Veranda gelangte man direkt ins Wohnzimmer – zwar der größte Raum des Hauses, aber nicht riesig. Ein Kamin aus Natursteinen, vor dem ein dunkles, schweres Sofa stand (eins zum Entspannen, nicht zum Repräsentieren), beherrschte den Raum. Die Regale waren voller Bücher, einige wenige über Landwirtschaft und Nahrung. Wir setzten uns an den Holztisch einer kleinen Essküche, in der es noch nach Frühstück roch.
»Mein Vater war ein russischer Einwanderer«, erklärte Bill. »Als Kind habe ich im Lebensmittelladen der Familie in Minneapolis gearbeitet. Das war mein Einstieg in das Thema Nahrung. Wir alle, die ganze Familie hat dort gearbeitet. Mein Leben hätte ich mir niemals träumen lassen.« Womit er meinte: Wie wird aus einem Amerikaner der ersten Generation, einem jüdischen Stadtkind, einer der wichtigsten Viehzüchter der Welt? Eine gute Frage, auf die es eine gute Antwort gibt.
»Der wichtigste Antrieb für jedermann war damals der Vietnamkrieg. Ich beschloss, Ersatzdienst zu leisten, und arbeitete als Lehrer in staatlich ausgewiesenen Armutsgegenden. So wurde ich mit bestimmten Aspekten des Landlebens vertraut und fing an, mich dafür zu begeistern. Ich baute mit meiner ersten Frau einen Hof auf.« (Nimans erste Frau Amy kam bei einem Unfall auf dem Hof ums Leben.) »Wir kauften etwas Land. Etwa elf Morgen. Wir hatten Ziegen, Hühner und Pferde. Wir waren ziemlich arm. Meine Frau unterrichtete auf einer großen Ranch, und man schenkte uns ein paar Kälber, die einige der jungen Kühe ungeplant zur Welt gebracht hatten.« Diese »ungeplanten« Rinder wurden der Grundstock dessen, was heute Niman Ranch heißt. (Der Jahresumsatz des Unternehmens beträgt inzwischen geschätzte 100 Millionen Dollar – und wächst weiter.)
Als ich die zwei besuchte, war es eher Nicolette als Bill, die die kleine Ranch der beiden bewirtschaftete. Er war vor allem damit beschäftigt, das Rindfleisch und Schweinefleisch zu verkaufen, das Hunderte kleiner Familienbetriebe für Ni-man Ranch produzierten. Nicolette, die wie eine Rechtsanwältin von der Ostküste wirkt (und früher auch eine war), kannte jede einzelne Färse und Kuh, jeden Stier und jedes Kalb auf ihrem Hof, wusste um deren Bedürfnisse und vermochte sie zu stillen, sah kein bisschen nach Farmerin aus und schien doch ganz in dem, was sie tat, aufzugehen. Bill, der mit seinem buschigen Schnauzbart und der wettergegerbten Haut wie für die Rolle gecastet war, kümmerte sich inzwischen hauptsächlich ums Marketing.