Natürlich meinen diejenigen, die »ans Fleisch glauben« und weiter Fleisch verzehren wollen – nur nicht aus Massentierhaltung –,dass die Vegetarismusprediger realitätsfremd sind. Sicher, eine kleine (vielleicht sogar eine größere) Bevölkerungsgruppe mag sich zum Vegetarismus bekehren, aber die Menschen im Allgemeinen wollen Fleisch, haben schon immer Fleisch gewollt, werden es immer wollen, und dabei bleibt es. Vegetarier sind bestenfalls freundlich, aber weltfremd. Schlimmstenfalls sind sie wahnhafte Sentimentalisten.
Zweifellos sind das recht unterschiedliche Schlussfolgerungen aus dem Zustand der Welt, in der wir leben, und hinsichtlich der Lebensmittel, die auf unserem Teller landen sollten, aber wie wichtig ist dieser Unterschied? Sowohl die Vorstellung eines gerechten landwirtschaftlichen Systems, das auf den besten Traditionen des Tierschutzes basiert, als auch die Vorstellung eines vegetarisch ausgerichteten landwirtschaftlichen Systems, das auf der Ethik des Tierrechts basiert, sind Strategien, die Gewalt zu reduzieren (niemals ganz zu eliminieren), die vom menschlichen Leben an sich ausgeht. Da stehen sich nicht einfach Wertesysteme gegenüber, wie es oft dargestellt wird. Es sind unterschiedliche Wege, eine Aufgabe anzupacken, die von beiden Seiten als notwendig erachtet wird. Sie spiegeln zwar unterschiedliche Erkenntnisse über die menschliche Natur wider, doch beide sprechen menschliches Mitgefühl und Verständigkeit an.
Beide Vorgehensweisen erfordern einen beträchtlichen Sinneswandel, und beide erwarten einiges von uns –als Individuen wie als Gesellschaft. Beide brauchen Verfechter, man kann nicht bloß seine Entscheidung treffen und sie für sich behalten. Beide Strategien verlangen von uns, wenn sie ihr Ziel erreichen sollen, mehr als nur eine Änderung der Essgewohnheiten: Wir sollen auch andere auffordern, es uns gleichzutun. Auch wenn sich die Unterschiede zwischen den beiden Positionen nicht leugnen lassen, so sind sie doch viel kleiner als die Gemeinsamkeiten, und angesichts des gemeinsamen Abstands zu allen Verteidigern der Massentierhaltung verblassen sie zur Bedeutungslosigkeit.
Noch lange nach meiner persönlichen Entscheidung, Vegetarier zu werden, war mir nicht klar, in welchem Maße ich andere Entscheidungen aufrichtig respektieren konnte. Sind die anderen Strategien einfach falsch?
4.
Ich bringe einfach das Wort
falsch
nicht heraus
BILL, NICOLETTE UND ICH schlenderten über wogendes Weideland bis zu den Meeresklippen. Unter uns brachen sich die Wellen an Felsformationen, die wie Skulpturen aussahen. Eine grasende Kuh nach der anderen kam ins Blickfeld, schwarz vor einem Meer aus Grün, die Köpfe gesenkt, mit den Kaumuskeln Grasbüschel zermalmend. Man konnte schlechterdings keinen Grund finden, wieso diese Tiere, jedenfalls solange sie grasten, es nicht gut hatten.
»Und wie ist es damit, ein Tier zu essen, das ihr persönlich kennt?«, fragte ich.
BILL: Das ist ja nicht so, als würde man ein Haustier essen. Ich jedenfalls kann da unterscheiden. Vielleicht liegt es zum Teil auch daran, dass unsere Herde groß genug ist, es gibt so einen Punkt, ab dem man seine Tiere nicht mehr als eine Art Haustiere wahrnimmt … Aber ich würde sie weder besser noch schlechter behandeln, wenn ich sie nicht essen würde.
Wirklich nicht? Würde er seinen Hund brandmarken? »Und was ist mit Verstümmelungen wie Brandzeichen?«
BILL: Das hat zum Teil damit zu tun, dass es eben große und teure Tiere sind; und da gibt es dieses Kennzeichnungssystem, das man heutzutage natürlich für archaisch halten kann. Um die Tiere verkaufen zu können, müssen sie tierärztlich untersucht und gebrandmarkt sein. Und es schützt tatsächlich vor Viehdiebstahl. Schützt sozusagen die Investition. Es werden gerade bessere Methoden geprüft – Netzhautscanner, eingepflanzte Mikrochips. Wir markieren sie mit dem heißen Brandeisen; wir haben es auch mal mit Kältebrandzeichen versucht, aber für die Tiere ist beides schmerzhaft. Bis wir ein besseres System haben, sind Brandzeichen notwendig.
NICOLETTE: Die Brandzeichen sind das Einzige hier auf der Ranch, bei dem ich mich unwohl fühle. Wir reden schon seit Jahren darüber … Aber Viehdiebstahl ist ein echtes Problem.
Ich fragte Bernie Rollin, einen international anerkannten Tierschutzexperten von der Colorado State University, was er von Bills Argument hielt, dass Brandzeichen auch heute noch zum Schutz vor Diebstahl nötig seien.
Ich will Ihnen erzählen, wie heute Rinder gestohlen werden: Die kapern einen Laster und schlachten die Tiere auf der Stelle – meinen Sie, da hilft ein Brandzeichen? Das ist eine kulturelle Frage. Ein Ritual. Jede Rancherfamilie hat so ein Brandzeichen, sie wollen die Tradition nicht aufgeben. Sie wissen, wie schmerzhaft es ist, aber sie haben es schon genauso mit ihren Vätern und Großvätern gemacht. Ich kenne einen Viehzüchter, eigentlich ein anständiger Rancher, der hat mir erzählt, dass seine Kinder zwar weder zu Thanksgiving noch an Weihnachten nach Hause kommen, aber zum Brandzeichensetzen.
Niman Ranch arbeitet auf mehreren Ebenen gegen die herrschenden Verhältnisse in der Tierhaltung, und mehr kann man wahrscheinlich nicht verlangen, wenn jemand ein Modell schaffen will, das sofort von vielen nachgeahmt werden kann. Dieses sofort verlangt eben auch Kompromisse. Brandzeichen sind ein solcher Kompromiss – ein Zugeständnis, nicht etwa an Sachzwänge oder praktische Notwendigkeiten oder Geschmacksvorlieben, sondern an eine irrationale, gewalttätige Gewohnheit, einen Brauch.
Die Rindfleischindustrie hebt sich in ethischer Hinsicht immer noch sehr vom Rest der Fleischproduktion ab, darum hätte ich mir gewünscht, die Wahrheit wäre nicht ganz so hässlich. Die vom Animal Welfare Institute abgesegneten Tierschutzrichtlinien, nach denen Niman Ranch arbeitet – noch einmaclass="underline" das sind so ziemlich die besten überhaupt –, erlauben außerdem Enthornung (Entfernen beziehungsweise Kürzen der Hörner mit Brennstab oder Ätzstift) und Kastration. Auf den ersten Blick weniger problematisch, aber aus Tierschutzsicht schlimmer ist, dass die Rinder von Niman Ranch ihre letzten Monate auf einer Mastparzelle, einem sogenannten Feedlot, verbringen. Diese Feedlots sind zwar nicht so schlimm wie die der Agrarindustrie (weniger Tiere, keine Medikamente, besseres Futter, bessere Pflege, größeres Augenmerk auf das Wohl des einzelnen Tieres), dennoch geben Bill und Nicolette ihren Rindern dort eine Nahrung, die sehr schlecht zu ihrem Verdauungssystem passt, und das über Monate. Sicher, bei Niman Ranch bekommen die Tiere eine verträglichere Getreidemischung als auf industriellen Feedlots. Trotzdem wird das grundlegende »arttypische« Verhalten der Tiere, das Grasfressen, einer Geschmacksvorliebe geopfert.
BILL: Für mich ist heute das Entscheidende, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, wir können das Essverhalten der Menschen ändern, und auch die Fütterung dieser Tiere. Das wird eine gemeinsame Anstrengung Gleichgesinnter erfordern. Wenn ich am Ende meines Lebens Bilanz ziehe, dann möchte ich im Rückblick sagen können: »Wir haben ein Vorbild geschaffen, das jedermann nachahmen kann«, auch wenn die Konzerne uns vom Markt drängen, immerhin haben wir diesen Wandel herbeigeführt.