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Das war Bills Wahl, und darauf hatte er sein ganzes Leben gesetzt. Galt das auch für Nicolette?

»Wieso isst du kein Fleisch?«, fragte ich sie. »Das frage ich mich schon den ganzen Nachmittag. Du sagst immer, dass grundsätzlich nichts Falsches daran ist, aber für dich ist es offensichtlich falsch. Ich frage jetzt nicht, wie es bei anderen Leuten ist, sondern bei dir.«

NICOLETTE: Ich habe das Gefühl, ich kann mich entscheiden, und ich möchte mir keine Schuld aufladen. Aber das liegt an meiner persönlichen Beziehung zu Tieren. Es würde mir zu schaffen machen. Ich glaube, ich fühle mich einfach unwohl dabei.

»Kannst du erklären, woher dieses Unwohlsein kommt?«

NICOLETTE: Ich glaube, weil ich weiß, dass es nicht nötig ist. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es wirklich falsch ist. Weißt du, ich bringe einfach das Wort falsch nicht heraus.

BILL: Im Moment des Schlachtens – das ist meine Erfahrung, und ich vermute, auch die der meisten Viehzüchter mit Herz –, da begreift man, was Schicksal und Herrschaft bedeuten. Weil man dieses Tier ums Leben gebracht hat. Eben ist es noch lebendig, und du weißt genau, wenn die Klappe aufgeht und das Tier reingeht, ist es vorbei. Das ist für mich der schwierigste Moment, wenn sie aufgereiht vorm Schlachthof warten. Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll. Es ist die Verbindung von Leben und Tod. Und da fragt man sich: »Mein Gott, will ich meine Herrschaft tatsächlich ausüben und dieses wundervolle Lebewesen in eine Ware verwandeln, in Nahrung?«

»Und wie gehst du damit um?«

BILL: Tja, man holt einfach tief Luft. Es wird nicht einfacher, je mehr es werden. Das denken die Leute bloß.

Man holt tief Luft? Einen Augenblick klingt das nach einer vernünftigen, nachvollziehbaren Reaktion. Klingt sogar romantisch. Einen Augenblick lang scheint Rancher die ehrlichere Alternative zu sein, um sich den harten Fakten von Leben und Tod, von Herrschaft und Schicksal zu stellen.

Oder ist der tiefe Atemzug in Wirklichkeit bloß ein resignierter Seufzer, ein halbherziges Versprechen, später darüber nachzudenken? Steht er für den unerschrockenen Blick oder für oberflächliches Ausweichen? Und was ist mit dem Ausatmen? Es reicht nicht, das Schlechte der Welt einzuatmen. Nicht darauf zu reagieren ist auch eine Reaktion – wir sind genauso verantwortlich für das, was wir nicht tun. Im Fall des Tiere tötens heißt das: Wer ratlos die Hände in den Schoß legt, schließt die Finger eigentlich ums Schlachtermesser.

5.

Tief Luft holen

SO GUT WIE ALLEN RINDERN steht das gleiche Schicksal bevor: die letzte Fahrt zum Schlachthof. Für Mastrinder kommt das Ende schon, während sie noch heranwachsen. Die frühen Rancher Amerikas hielten ihre Rinder auf der Weide, bis sie vier oder fünf Jahre alt waren, doch heute werden sie mit zwölf bis vierzehn Monaten geschlachtet. Auch wenn wir mit dem Endprodukt dieser letzten Reise bestens vertraut sind (wir haben es bei uns zu Hause, wir haben es im Mund, unsere Kinder haben es im Mund …), bleibt die Reise selbst für die meisten von uns ungefühlt und ungesehen.

Für die Rinder ist sie offenbar eine Abfolge unterschiedlicher Stresserlebnisse: Wissenschaftler haben unterscheidbare hormonelle Stressreaktionen auf das Zusammentreiben, den Transport und das Schlachten selbst festgestellt. Wenn der Schlachthof optimal betrieben wird und funktioniert, kann der anfängliche »Stress« beim Zusammentreiben – jedenfalls lassen die Hormonmengen darauf schließen – größer sein als beim Transport oder bei der Schlachtung.

Starker, akuter Schmerz ist zwar ziemlich einfach zu erkennen, doch was für das jeweilige Tier ein gutes Leben ist, lässt sich erst sagen, wenn man die betreffende Art – oder sogar die betreffende Herde, das individuelle Tier – kennt. Für den heutigen Städter ist vielleicht das Schlachten das Schlimmste, doch wenn man die Dinge aus der Rindperspektive betrachtet, kann man sich leicht vorstellen, dass nach einem Leben in Gesellschaft anderer Rinder die unmittelbare Begegnung mit seltsamen, lauten, aufrecht gehenden Wesen, die Schmerz zufügen, erschreckender sein kann als der kontrollierte Augenblick des Todes selbst.

Als ich durch Bills Herde streifte, wurde mir allmählich klar, warum das so ist. Wenn ich mich in sicherer Entfernung von den grasenden Rindern hielt, schienen sie meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Von wegen: Rinder verfügen über ein weites Blickfeld, beinahe 360 Grad, und sie beobachten ihre Umgebung aufmerksam. Sie kennen die anderen Tiere um sich herum, sie wählen Anführer, und sie verteidigen ihre Herde. Immer wenn ich einem Rind näher als auf Armeslänge kam, hatte ich offenbar eine unsichtbare Grenze überschritten, und das Tier zuckte rasch zurück. In der Regel haben Rinder als Beutetiere einen ausgeprägten Fluchtinstinkt, und viele der üblichen Treibmethoden – mit dem Lasso einfangen, Geschrei, Schwanz verdrehen, Elektroschocks, Schläge – versetzen sie in Angst und Schrecken.

Irgendwie werden sie schließlich auf Lastwagen oder in Güterwaggons getrieben. Dann liegt eine bis zu 48-stündige Reise vor ihnen, während der sie weder Futter noch Wasser erhalten. Daher verlieren eigentlich alle beim Transport Gewicht, viele zeigen Symptome von Austrocknung. Oft werden sie auch extremer Kälte oder Hitze ausgesetzt. Einige Tiere sterben unter diesen Bedingungen, oder sie treffen so krank beim Schlachthof ein, dass sie nicht mehr zum menschlichen Verzehr geeignet sind.

Ich kam nicht einmal in die Nähe eines industriell betriebenen Großschlachthofs. Es gibt im Grunde nur einen Weg für jemanden von außerhalb der Fleischindustrie, solche Rinderschlachthöfe von innen zu sehen: sich als verdeckter Ermittler hineinzuschmuggeln, und das braucht nicht nur mindestens ein halbes Jahr Vorbereitung, sondern kann auch lebensgefährlich werden. Die Beschreibung des Schlachtens, die ich hier liefere, stammt deshalb aus Augenzeugenberichten oder aus industrieeigenen Berichten. Ich werde versuchen, Schlachthofarbeiter so weit wie möglich mit ihren eigenen Worten von ihrem Arbeitsalltag berichten zu lassen.

In seinem Bestseller The Omnivore’s Dilemma verfolgt Autor Michael Pollan das Leben eines in Massentierhaltung aufwachsenden Rindes, Nr. 534, das er persönlich erworben hatte. Pollan gelingt eine umfassende und genaue Schilderung industrieller Rinderaufzucht, doch er geht nicht so weit, sich ernsthaft mit der Schlachtung zu beschäftigen. Lieber wägt er die ethischen Probleme aus sicherer, abstrakter Entfernung. An diesem Punkt versagt seine oft hellsichtige und aufschlussreiche Unternehmung ganz grundlegend.

»Die Schlachtung«, berichtet Pollan, war »das einzige Ereignis in seinem [Nr. 534] Leben, das ich nicht mit ansehen, über das ich nichts erfahren durfte außer dem voraussichtlichen Termin. Das überraschte mich nicht besonders. Die Fleischindustrie weiß, je mehr die Leute darüber wissen, was im Schlachthof geschieht, desto weniger Fleisch werden sie essen wollen.« Gut gesagt.

Aber, fährt Pollan fort, »das liegt weniger daran, dass das Schlachten notwendigerweise unmenschlich geschieht, sondern dass die meisten von uns lieber nicht daran erinnert werden wollen, was Fleisch eigentlich genau ist und was alles geschehen muss, um es auf unseren Teller zu bringen«. Das kommt mir wie eine Mischung aus Halbwahrheit und Ausflucht vor. Pollan erklärt: »Konventionell produziertes Fleisch zu essen erfordert eine beinahe heldenhafte Anstrengung, nicht wissen oder, in meinem Fall jetzt, vergessen zu wollen.« Diese Heldentat ist aber genau deshalb nötig, weil man eben viel mehr als nur das Sterben der Tiere vergessen muss: nicht nur, dass Tiere getötet werden, sondern wie.