Wie leicht ist es, sich zu seiner Verantwortung für die Lebewesen zu bekennen, die fast gänzlich von einem abhängen, und sie gleichzeitig nur aufzuziehen, um sie zu töten? Marlene Halverston fasst die eigenartige Situation des Viehzüchters in beredte Worte:
Das ethische Verhältnis eines Farmers zu seinen Nutztieren ist einzigartig. Er muss ein Lebewesen großziehen, dessen Schicksal es dazu bestimmt, entweder zur Fleischgewinnung oder nach lebenslanger Nahrungsproduktion getötet zu werden, ohne sich einerseits emotional zu eng an sie zu binden und ohne andererseits das Bedürfnis des Lebewesens nach einem anständigen Leben auf zynische Weise zu ignorieren. Dem Farmer muss es irgendwie gelingen, ein Nutztier in kommerzieller Absicht aufzuziehen, ohne es bloß als Ware zu betrachten.
Ist es vernünftig, Derartiges von Farmern zu verlangen? Wenn man den wirtschaftlichen Druck unseres Industriezeitalters bedenkt, ist Fleisch nicht notwendigerweise eine Absage an, ein Verhindern von, wenn nicht gar ein unumwundenes Verleugnen von Mitgefühl? Die gegenwärtige Agrarindustrie bietet genug Grund zur Skepsis, doch niemand weiß, wie die Farmen von morgen aussehen werden.
Eins wissen wir aber: Wer heute Fleisch isst, hat normalerweise die Wahl zwischen Tieren, die mit mehr (Hühner, Puten, Fische, Schweine) oder weniger (Rinder) Grausamkeit gehalten werden. Warum meinen so viele von uns, sich zwischen diesen Möglichkeiten entscheiden zu müssen? Was braucht es, damit solche utilitaristischen Berechnungen des geringsten Schreckens abwegig erscheinen? In welchem Augenblick weichen die absurden Alternativen, vor denen wir heute stehen, der Einfachheit einer klar gezogenen Grenzlinie: Das ist nicht akzeptabel?
Wie zerstörerisch muss eine kulinarische Vorliebe werden, bis wir beschließen, etwas anderes zu essen? Wenn es als Entscheidungshilfe nicht ausreicht, dass man zum Leid von Milliarden Tieren beiträgt, die ein elendes Leben führen und (sehr oft) eines grauenhaften Todes sterben, was ist dann nötig? Wenn es nicht ausreicht, den größten Beitrag zur ernsthaftesten Bedrohung des Lebens auf unserem Planeten zu leisten, was dann? Und wenn man versucht ist, diese Gewissensfragen aufzuschieben, jetzt noch nicht zu sagen, wann dann?
Wir haben zugelassen, dass die Tierfabrik die Farm verdrängt, und zwar aus den selben Gründen, aus denen unsere Kulturen Minderheiten zu Bürgern zweiter Klasse erklären und Frauen den Männern unterordnen. Wir behandeln Tiere so, wie wir es tun, weil wir wollen und weil wir können. (Möchte das wirklich noch irgendjemand leugnen?) Der Mythos des Einverständnisses ist vielleicht überhaupt die Geschichte des Fleischessens, und viel hängt davon ab, ob wir diese Geschichte realistisch betrachtet für plausibel halten.
Ist sie nicht. Nicht mehr. Sie würde niemanden zufriedenstellen, der kein besonderes Interesse am Tiereessen hat. Letztlich geht es bei der Massentierhaltung nicht um die Ernährung von Menschen, sondern um Geld. Und wenn es keine einschneidenden gesetzlichen und ökonomischen Veränderungen gibt, kann es gar nicht anders sein. Und ob es nun richtig oder falsch ist, Tiere für den Verzehr zu töten, wir wissen jedenfalls, dass es innerhalb des heute herrschenden Systems unmöglich ist, sie ohne (mindestens) gelegentliche Folter zu töten. Und darum muss sich sogar Frank – der gutmütigste Farmer, den man sich denken kann – bei seinen Tieren entschuldigen, wenn er sie zur Schlachtbank wegschickt. Er hat einen Kompromiss eingehen müssen, anstatt einen fairen Deal zu machen.
Bei Niman Ranch ist vor Kurzem etwas wenig Erfreuliches geschehen: Kurz vor Drucklegung dieses Buches wurde Bill aus dem Unternehmen gedrängt, das seinen Namen trägt. Nach seiner Darstellung zwang ihn sein eigener Vorstand zum Rückzug, weil man schlicht mehr Profit und weniger Moral wollte, als er zugelassen hätte. Es scheint, als würde selbst sein Unternehmen – sicherlich der eindrucksvollste Fleischproduzent der Vereinigten Staaten – sich verkaufen. Ich habe Niman Ranch in diesem Buch beschrieben, weil es der beste Beweis dafür war, dass es für wählerische Allesesser eine wirtschaftlich sinnvolle Strategie gibt. Was soll ich – sollen wir – mit ihrem Sündenfall tun?
Im Augenblick bleibt Niman Ranch die einzige landesweit erhältliche Marke, die nach meiner Einschätzung für deutlich verbesserte Lebensbedingungen der Tiere steht (bei Schweinen noch mehr als bei Rindern). Aber würden Sie diesen Leuten wirklich mit gutem Gewissen Geld geben? Wenn Tierhaltung ein grausamer Witz geworden ist, dann ist dies vielleicht die Pointe: Selbst Bill Niman hat gesagt, er würde von Niman Ranch kein Rindfleisch mehr essen.
Ich habe meine Wahl getroffen, ich will vegetarisch leben. Dennoch habe ich so viel Respekt vor Menschen wie Frank, die sich für eine humanere Tierhaltung einsetzen, dass ich ihre Arbeit unterstütze. Letztlich ist das gar keine so komplizierte Haltung. Und auch keine verdeckte Propaganda für Vegetarismus. Es ist ein Plädoyer für den Vegetarismus, aber gleichzeitig auch ein Plädoyer für eine andere, klügere Tierhaltung und eine angemessenere Art, Fleisch zu essen.
Wenn wir schon nicht die Wahl haben, ohne Gewalt zu leben, dann können wir uns doch zumindest entscheiden, ob wir unser Essen auf Ernteerträge oder auf Schlachtprodukte, auf Landwirtschaft oder auf Krieg stützen wollen. Wir haben das Schlachten, wir haben den Krieg gewählt. Das ist die wahrste Version unserer Geschichte des Essens von Tieren.
Können wir eine neue Geschichte erzählen?
Wo wird es enden?
1.
Das letzte Thanksgiving meiner Kindheit
MEINE GANZE KINDHEIT HINDURCH feierten wir Thanksgiving bei meinem Onkel und meiner Tante. Mein Onkel, der jüngere Bruder meiner Mutter, war die erste Person auf dieser Seite der Familie, die auf dieser Seite des Atlantiks geboren wurde. Meine Tante kann ihre Abstammung bis zur Mayflower zurückverfolgen. Diese merkwürdige Paarung von Lebensgeschichten trug erheblich dazu bei, dass unsere Thanksgiving-Feste so besonders und denkwürdig und im besten Wortsinn amerikanisch waren.
Wir kamen gegen zwei Uhr an. Die Cousins spielten in einem schmalen, abschüssigen Vorgarten Football, bis sich mein kleiner Bruder verletzte und wir auf den Dachboden gingen, um auf den diversen Spielkonsolen Football zu spielen. Zwei Stockwerke unter uns sabberte Maverick die Ofenglastür voll, mein Vater redete über Politik und Cholesterin, die Detroit Lions gaben in einem unbeachteten Fernseher alles auf dem Spielfeld, und meine von ihrer Familie umgebene Großmutter dachte in der Sprache ihrer toten Verwandten.
Etwa zwei Dutzend zusammengewürfelte Stühle standen um vier zusammengeschobene, leicht unterschiedlich hohe und breite Tische, die mit einheitlichen Tüchern bedeckt waren. Niemand ließ sich dadurch überzeugen, dass diese Anordnung perfekt war, aber sie war es. Meine Tante legte ein Häufchen Puffmaiskörner auf jeden Teller, die wir im Laufe des Essens als Symbole des Dankes auf den Tisch legen sollten. Ständig wurden Gerichte aufgetragen; manche gingen im, manche gegen den Uhrzeigersinn herum, und wieder andere wurden im Zickzack von oben nach unten gereicht: Süßkartoffelauflauf, selbst gebackene Brötchen, grüne Bohnen mit Mandeln, verschiedene Cranberry-Kreationen, Kartoffelpüree mit Butter, der völlig unpassende Kugel meiner Großmutter, Tabletts mit Gewürzgurken und Oliven und marinierten Champignons und ein comicartig großer Truthahn, der in den Ofen geschoben worden war, als man den vom letzten Jahr herausgenommen hatte. Wir redeten und redeten: über die Orioles und Redskins, Veränderungen in der Nachbarschaft, unsere Errungenschaften und den Kummer anderer (unser eigener Kummer war tabu), und in der ganzen Zeit ging meine Großmutter von Enkel zu Enkel und sorgte dafür, dass niemand verhungerte.