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Thanksgiving ist der Feiertag, der alle anderen umspannt. Bei allen, angefangen vom Martin-Luther-King-Tag über den Tag des Baumes über Weihnachten bis hin zum Valentinstag, geht es darum, Dankbarkeit zu zeigen. An Thanksgiving sind wir jedoch nicht für etwas Bestimmtes dankbar. Wir feiern nicht die Pilgerväter, sondern was die Pilgerväter gefeiert haben. (Bis Ende des

19. Jahrhunderts traten die Pilgerväter bei dem Feiertag noch nicht einmal besonders in Erscheinung.) Thanksgiving ist ein amerikanischer Feiertag, aber er hat nichts spezifisch Amerikanisches – wir feiern nicht Amerika, sondern amerikanische Ideale. Jeder, der seinen Dank ausdrücken möchte, kann das an diesem Tag tun. Thanksgiving weist über die Verbrechen hinaus, die Amerika ermöglicht haben, und ist mehr als sein kommerzieller Charakter, Kitsch und Hurrapatriotismus, die man diesem Feiertag aufgebürdet hat.

Thanksgiving ist ein Essen, wie wir es uns häufiger wünschen würden. Natürlich können die meisten von uns nicht (und würden es auch nicht wollen) jeden Tag den ganzen Tag kochen, und natürlich wäre es fatal, wenn wir regelmäßig so viel essen würden, und wie viele von uns möchten wirklich jeden Abend von ihrer gesamten Verwandtschaft umgeben sein? (Manchmal ist es anstrengend genug, mit mir allein zu essen.) Aber die Vorstellung, alle Mahlzeiten würden so bewusst begangen, ist schön. Von den etwa 1000 Mahlzeiten, die wir jährlich essen, ist das Thanksgiving-Dinner das mit der größten Sorgfalt vorbereitete. Es ist von der Hoffnung getragen, ein gutes Essen zu sein, dessen Zutaten, die Sorgfalt, die wir auf die Zubereitung und das Anrichten verwenden, sowie dessen Verzehr für unsere besten Eigenschaften stehen. Mehr als bei jeder anderen Mahlzeit geht es darum, was gutes Essen und gutes Denken sind.

Der Truthahn verkörpert, mehr als jedes andere Nahrungsmittel, die Paradoxien des Essens von Tieren: Was wir den lebenden Truthähnen antun, ist genauso schlimm wie alles, was der Mensch den Tieren in der Geschichte der Welt jemals angetan hat. Und dennoch erscheint uns das, was wir mit ihren toten Körpern anstellen, unbedingt gut und richtig. Der Thanksgiving-Truthahn ist das Fleisch rivalisierender Instinkte – des Erinnerns und des Vergessens.

Ich schreibe diese abschließenden Worte wenige Tage vor Thanksgiving. Inzwischen lebe ich in New York und komme nur noch selten – zumindest laut meiner Großmutter – nach

D.C. Keiner von den Jungen ist mehr jung. Einige, die Puffmaiskörner auf den Tisch gelegt haben, sind verschieden. Und es gibt neue Familienmitglieder. (Ich bin jetzt wir.)Als wären die Reisen nach Jerusalem, die ich früher auf Geburtstagsfeiern spielte, eine Vorbereitung auf dieses Ende und den Beginn gewesen. Es wird das erste Jahr sein, in dem wir bei mir feiern, das erste Mal, dass ich das Essen zubereite, und das erste Thanksgiving-Mahl, bei dem mein Sohn alt genug ist, um mit uns zu essen. Wenn dieses Buch auf eine einzige Frage gebracht werden könnte – keine bequeme, suggestive oder arglistige, sondern eine Frage, die das Problem, ob wir Tiere essen oder ob wir keine essen sollen, gänzlich umfasst –, könnte sie so lauten: Muss es an Thanksgiving Truthahn geben?

2.

Was haben Truthähne mit Thanksgiving zu tun?

WAS GEWINNEN WIR, wenn an Thanksgiving ein Truthahn auf dem Tisch steht? Vielleicht schmeckt er gut, aber Geschmack ist nicht der Grund, warum er vor uns steht – über das Jahr gerechnet essen die meisten Menschen sonst nur wenig Truthahn. (Der Thanksgiving Day macht 18 Prozent des jährlichen Truthahnkonsums aus.) Und trotz der Freude, die uns üppige Mahlzeiten bereiten, geht es bei Thanksgiving nicht um das große Fressen – es geht genau um das Gegenteil.

Vielleicht gibt es Truthahn, weil er einfach zum Ritual gehört – so feiern wir eben Thanksgiving. Warum? Weil die Pilgerväter ihn möglicherweise an ihrem ersten Thanksgiving verzehrt haben? Eher unwahrscheinlich. Wir wissen, dass sie weder Mais, Äpfel, Kartoffeln noch Cranberrys hatten, und in den beiden einzigen schriftlichen Zeugnissen über das legendäre Thanksgiving in Plymouth ist nur von Wildbret und Wildgeflügel die Rede. Auch wenn es denkbar ist, dass sie wilden Truthahn aßen, wissen wir, dass der Truthahn erst seit dem

19. Jahrhundert ein Teil des Rituals war. Und Historiker haben inzwischen ein noch früheres Thanksgiving entdeckt als das 1621 in Plymouth gefeierte, das von englischstämmigen amerikanischen Historikern berühmt gemacht wurde. Ein halbes Jahrhundert vor Plymouth haben frühe amerikanische Siedler im heutigen Florida Thanksgiving mit Timucua-Indianern gefeiert – es scheint wissenschaftlich belegt, dass diese Siedler katholisch waren und nicht protestantisch und dass sie Spanisch sprachen und nicht Englisch. Sie aßen Bohnensuppe.

Aber gehen wir einfach davon aus, dass die Pilgerväter Thanksgiving erfanden und Truthahn aßen. Abgesehen von der Tatsache, dass die Pilgerväter vieles machten, was wir heute nicht tun würden (und dass wir vieles tun würden, was sie nicht machten), haben die von uns verzehrten Truthähne mit den vielleicht von den Pilgervätern verzehrten ebenso wenig gemeinsam wie der immer wieder gern bewitzelte Tofurkey (vegetarischer Truthahn). Im Zentrum unserer Thanksgiving-Tische steht ein Tier, das nie frische Luft geatmet oder den Himmel gesehen hat, bis es zur Schlachtbank geführt wurde. Auf unseren Gabeln steckt ein Tier, das unfähig war, sich zu reproduzieren. In unseren Bäuchen liegt ein Tier mit Antibiotika im Bauch. Allein schon die genetische Ausstattung unserer Vögel ist ganz anders als die ihrer Ahnen. Hätten die Pilgerväter in die Zukunft sehen können, was hätten sie wohl über den Truthahn auf unserem Tisch gedacht? Vermutlich hätten sie ihn, und das ist keine Übertreibung, gar nicht als Truthahn erkannt.

Und was wäre, wenn es keinen Truthahn gäbe? Wäre damit die Tradition gebrochen oder verletzt, wenn wir statt eines Vogels nur den Süßkartoffelauflauf, selbst gebackene Brötchen, grüne Bohnen mit Mandeln, Cranberry-Kreationen, Kartoffelpüree mit Butter, Kürbis-und Pekannusspies hätten? Vielleicht könnten wir noch timucuanische Bohnensuppe hinzufügen. Das würde gut passen. Stellen Sie sich Ihre Lieben um den Tisch versammelt vor. Hören Sie die Geräusche, riechen Sie, wie es duftet. Es gibt keinen Truthahn. Wird der Feiertag dadurch ruiniert? Ist Thanksgiving dann immer noch Thanksgiving?

Oder würde Thanksgiving dadurch besser? Wäre die Entscheidung, keinen Truthahn zu essen, nicht ein energischerer Ausdruck unserer Dankbarkeit? Versuchen Sie, sich die Unterhaltung vorzustellen, die stattfinden könnte. Deshalb feiert unsere Familie so. Wäre eine solche Unterhaltung enttäuschend oder anregend? Würden weniger oder mehr Werte vermittelt?

Würde der Appetit auf dieses bestimmte Tier die Freude schmälern? Stellen Sie sich die Thanksgiving-Feste Ihrer Familie nach Ihrem Tod vor, wenn die Frage nicht mehr lautet: »Warum essen wir das nicht?«, sondern das naheliegendere: »Wie konnten sie nur?« Kann der imaginierte Blick auf künftige Generationen uns durch Scham – im kafkaesken Wortsinn – zum Erinnern zwingen?

Die Vertuschungspraktiken, durch die Massentierhaltung überhaupt erst möglich wurde, verlieren ihre Wirksamkeit. In den drei Jahren, die ich mit dem Schreiben dieses Buches verbracht habe, tauchten beispielsweise die ersten Berichte darüber auf, dass die landwirtschaftliche Tierhaltung stärker zur Erderwärmung beiträgt als alles andere. Zum ersten Mal empfahl ein angesehenes Forschungsinstitut (die Pew Commission) die allmähliche völlige Abschaffung der Intensivtierhaltung mit vielen Tieren auf kleiner Fläche. Zum ersten Mal erklärte ein amerikanischer Bundesstaat (Colorado) übliche Methoden der Massentierhaltung (Käfige für hochtragende Tiere und für Kälber) als ungesetzlich, und zwar als Ergebnis von Verhandlungen mit der Industrie und nicht von Kampagnen gegen die Industrie. Zum ersten Mal entschloss sich eine Supermarktkette (Whole Foods) zu einer systematischen und umfassenden Kennzeichnung von tierischen Produkten aus artgerechter Haltung. Und zum ersten Mal äußerte sich eine angesehene überregionale Zeitung (die New York Times)auf derMeinungsseite in einem Essay gegen die gesamte industrielle Viehzucht mit unter anderem folgenden Worten: »Tierhaltung ist zu Tierquälerei geworden«, und »Dung … ist zu toxischem Abfall geworden«.