Grandin hat betont, dass sich die Verhältnisse verbessert hätten, da immer mehr Fleischhändler von ihren Lieferanten Schlachtberichte verlangen, aber wie sehr verbessert? Bei der Durchsicht der jüngsten Qualitätskontrollen auf Geflügelschlachtbetrieben, die vom National Chicken Council durchgeführt wurden, stellte Grandin bei 26 Prozent der Schlachtereien so gravierende Tierquälereien fest, dass sie eigentlich hätten durchfallen müssen. (Die Schlachthofindustrie fand die Ergebnisse – wer hätte das gedacht? – völlig zufriedenstellend und segnete alle Betriebe ab, selbst wenn dort lebende Hühner herumgeworfen wurden, Tiere in den Müll geschmissen und lebend gebrüht wurden.) Laut Grandins jüngster Untersuchung von Rinderbetrieben waren in ganzen 25 Prozent der Schlachthöfe so schwere Quälereien zu beobachten, dass sie bei ihrer Kontrolle automatisch durchfielen (»ein Tier bei Bewusstsein an den Haken zu hängen« wird dabei als Musterbeispiel für die Art von Tiermissbrauch angeführt, die automatisch zum Durchfallen führen müsste).
Bei anderen Untersuchungen wurde Grandin Zeugin, wie ein Arbeiter ein Rind bei vollem Bewusstsein zerlegte, wie zum Entbluten am Haken hängende Rinder wieder zu Bewusstsein kamen und wie Arbeiter »Rindern den Elektro-Treibstab in den Anus stießen«. Was passierte dann wohl erst, wenn niemand hinsah? Und was ist mit der überwiegenden Mehrheit der Schlachtbetriebe, die ihre Türen erst gar nicht für Kontrollen öffnen?
Die Farmer haben eine direkte, humane Beziehung zu ihrer Arbeit verloren – man hat sie ihnen genommen. Immer häufiger gehören ihnen die Tiere nicht mehr, sie können nicht über die Haltungsmethoden entscheiden, dürfen nicht nach ihren eigenen Maßgaben vorgehen und haben keine Alternative zum Hochgeschwindigkeitsschlachten der Industrie. Industrielles Schlachten entfremdet die Farmer nicht nur von den Tätigkeiten der Fleischproduktion (aufhängen, zerhacken, zersägen, stechen, zerlegen), sondern auch von den Produkten selbst (widerliche, ungesunde Nahrungsmittel) und wie sie verkauft werden (anonym und billig). Unter den Bedingungen eines Massentierbetriebs oder eines Schlachthofs können menschliche Wesen nicht Mensch sein (geschweige denn menschlich). Eine größere Entfremdung vom Arbeitsplatz als in der industriellen Fleischproduktion gibt es derzeit nicht. Es sei denn, man bedenkt, was die Tiere durchmachen.
4.
Der amerikanische Tisch
MACHEN WIR UNS NICHTS VOR: Den meisten von uns stehen nicht besonders viele Möglichkeiten offen, sich ethisch einwandfrei zu ernähren. In Amerika gibt es nicht genug Hähnchen aus artgerechter Haltung, um die Bevölkerung von Staten Island zu versorgen, und es gibt nicht genug Schweinefleisch aus artgerechter Haltung, um die Stadt New York zu beliefern, geschweige denn das ganze Land. Ethisch unbedenkliches Fleisch ist Mangelware, keine Realität. Jeder ernsthafte Befürworter von ethisch einwandfreiem Fleisch kommt nicht umhin, viel vegetarische Lebensmittel zu essen.
Eine erkleckliche Anzahl von Menschen kauft neben Fleisch aus Massentierhaltung auch Fleisch von Tieren aus artgerechter Viehzucht, wenn es erhältlich ist. Das ist ehrenwert, hilft aber nicht. Wenn unsere moralische Fantasie wirklich nicht weiter reicht, ist es schwer, die Zukunft optimistisch zu sehen. Jedes Vorhaben, das der Massentierhaltung Geld zuführt, wird die Massentierhaltung nicht beenden. Wie wirksam wäre der Busboykott von Montgomery gewesen, wenn die Demonstranten den Bus benutzt hätten, sobald ihnen andere Transportmöglichkeiten zu unbequem erschienen wären? Wie wirksam wäre ein Streik, wenn die Arbeiter zurück an die Arbeit gingen, sobald das Streiken zu schwierig wäre? Wer sich durch dieses Buch aufgefordert fühlt, Fleisch aus artgerechter Haltung und gleichzeitig auch aus Massentierhaltung zu kaufen, hat etwas herausgelesen, was nicht hier steht.
Wenn es uns mit dem Beenden der Massentierhaltung wirklich ernst ist, dann ist das Allermindeste, was wir tun können, den schlimmsten Tierquälern kein Geld mehr zu geben. Einigen wird die Entscheidung, auf Produkte aus Massentierhaltung zu verzichten, leichtfallen. Anderen wird sie schwerfallen. Für die, denen die Entscheidung schwer erscheint (ich hätte mich zu dieser Gruppe gezählt), stellt sich letztlich die Frage, ob der Aufwand sich lohnt. Immerhin wissen wir, dass wir mit dieser Entscheidung dazu beitragen, die Waldzerstörung zu verhindern, die globale Erwärmung einzudämmen, Umweltverschmutzung zu reduzieren, Ölreserven zu sparen, die Bürde für das ländliche Amerika zu mindern, den Missbrauch von Menschenrechten zu verringern, die öffentliche Gesundheit zu verbessern und den schlimmsten systematischen Tiermissbrauch abzuschaffen. Was wir allerdings nicht wissen, könnte genauso wichtig sein. Wie würden wir uns verändern, wenn wir eine solche Entscheidung träfen?
Abgesehen von den direkten wesentlichen Veränderungen, die ein Ausstieg aus der Massentierhaltung in Gang setzen würde, wäre die Entscheidung für eine umsichtige Ernährung an sich schon ein Faktor mit enormem Potenzial. Was für eine Welt würden wir schaffen, wenn wir dreimal am Tag unser Mitgefühl und unseren Verstand aktivierten, sobald wir uns zum Essen an den Tisch setzen, wenn wir die moralische Fantasie und den pragmatischen Willen aufbrächten, unser Essverhalten grundlegend zu ändern? Tolstoi behauptete, dass zwischen Schlachthöfen und Schlachtfeldern eine Verbindung bestehe. Gut, wir führen keine Kriege, weil wir Fleisch essen, und manche Kriege sollten durchaus geführt werden – nebenbei gesagt, Hitler war angeblich Vegetarier. Aber Mitgefühl ist ein Muskel, der mit dem Gebrauch stärker wird, und wenn wir regelmäßig trainieren würden, uns für Freundlichkeit statt Grausamkeit zu entscheiden, würden wir uns verändern.
Es klingt vielleicht naiv zu sagen, dass die Entscheidung, ob man eine Geflügelfrikadelle oder einen vegetarischen Burger bestellt, absolut wichtig ist. Andererseits hätte es sicherlich ebenso utopisch geklungen, wenn uns jemand in den 1950ern gesagt hätte, dass man mit der Platzwahl in einem Restaurant oder Bus beginnen könne, den Rassismus zu beenden. Und ebenso utopisch hätte es geklungen, wenn jemand in den frühen 1970ern, noch vor César Chávez’ Engagement für die Rechte der Landarbeiter, gesagt hätte, dass der Verzicht auf Weintrauben die Landarbeiter aus sklavenähnlichen Verhältnissen befreien könne. Es mag utopisch klingen, aber wenn wir uns die Mühe machen und uns umsehen, können wir nicht leugnen, dass wir mit unseren täglichen Entscheidungen die Welt gestalten. Als die ersten Siedler Amerikas die Boston Teaparty beschlossen, wurden derart starke Kräfte freigesetzt, dass daraus eine Nation entstand. Die Entscheidung, was wir essen (und was wir über Bord werfen), ist die Grundlage für Produktion und Konsum und bestimmt alle weiteren Schritte. Ob wir Pflanzen oder Fleisch wählen, Massentierbetrieb oder bäuerlichen Familienbetrieb, verändert allein noch nicht die Welt, wohl aber, wenn wir uns, unseren Kindern, unserer Umgebung und unserem Land beibringen, dem Gewissen zu folgen und nicht der Bequemlichkeit. Eine der besten Gelegenheiten, unsere Werte zu leben – oder sie zu verraten –, liegt in dem Essen, das wir uns auf den Teller häufen. Und wir leben oder verraten unsere Werte nicht nur als Individuen, sondern als Nationen.
Wir haben wichtigere Vermächtnisse als das Streben nach billigen Produkten. Martin Luther King jr. schrieb leidenschaftlich über die Zeit, »in der man eine Position einnehmen muss, die weder sicher noch politisch, noch opportun ist«. Manchmal