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An der Portierloge nahm er von einem verärgerten Friedhofswärter die Schokolade in Empfang und kaufte dann für sein letztes Geld eine Straßenbahnkarte. Wohin er gehen würde, wußte er noch nicht. Er wußte nur, daß er jetzt den karierten Herrn suchen und sein verkauftes Lachen zurückgewinnen wollte.

Neunter Bogen. Herr Rickert

Die Straßenbahn war fast leer. Außer Timm saß nur ein rundlicher älterer Herr mit einem lustigen Mopsgesicht im Wagen.

Er fragte den Jungen, wohin er fahre.

„Zum Bahnhof1, antwortete Timm.

„Aber dann hättest du eine Umsteigekarte lösen müssen. Diese Bahn fährt nicht zum Bahnhof. Ich weiß es genau, weil ich auch dorthin muß.“

Timm, der seine Mütze auf die Knie gelegt hatte, fühlte unter seinen Fingern das Papier des Vertrages knistern. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, möglichst unsinnige Wetten einzugehen. Vielleicht würde er eine davon verlier ren; dann hätte er sein Lachen zurückgewonnen!

So sagte er: „Ich wette mit Ihnen, mein Herr, daß diese Straßenbahn zum Bahnhof fährt.“

Der Herr lachte und sagte dasselbe wie der dicke Friedhofswärter: „Diese Wette hast du verloren, ehe du sie abgeschlossen hast!“ Er fügte hinzu: „Wir sitzen nämlich in der Nummer neun, und die ist noch nie zum Bahnhof gefahren.“

„Trotzdem wette ich mit Ihnen“, sagte Timm in so bestimmtem Ton, daß der Herr stutzig wurde.

„Du scheinst deiner Sache ja sehr sicher zu sein, Junge. Um was willst du wetten?“

„Um eine Fahrkarte nach Hamburg“, sagte Timm schnell. Und er selbst war über den plötzlichen Einfall am meisten verblüfft. (Immerhin lag der Gedanke nahe; denn Timm hatte ja schon seit längerer Zeit den Plan, zur See zu fahren.)

„Willst du denn nach Hamburg fahren?“

Timm nickte.

Das freundliche Mopsgesicht legte sich in Schmunzelfalten.

„Du brauchst nicht zu wetten, Junge! Ich fahre nämlich auch nach Hamburg und habe ein ganzes Abteil gemietet. Der Herr, der mich begleiten wollte, ist verhindert. Da könntest du mir Gesellschaft leisten.“

„Trotzdem biete ich Ihnen die Wette an“, sagte Timm ernst.

„Schön! Wetten wir also. Aber ich warne dich: Du verlierst! Wie heißt du?“

„Timm Thaler.“

„Ein hübscher Name. Klingt nach viel Geld. Ich heiße Rickert.“

Die beiden gaben sich die Hand. Damit waren sie einander vorgestellt, und die Wette war abgeschlossen.

Als der Schaffner zur Kontrolle durch den Wagen ging, fragte Herr Rickert: „Fahren Sie zum Bahnhof?“

Gerade wollte der Schaffner antworten, als die Straßenbahn mit einem Ruck hielt und Timm gegen Herrn Rickert gedrückt wurde.

Der Schaffner eilte nach vom auf die Plattform. Dort war eben ein Beamter mit einer dicken silbernen Achselschnur aufgestiegen. Die beiden wechselten ein paar aufgeregte Worte. Dann kam der Schaffner in den Wagen zurück und wandte sich an Herrn Rickert. „Mein Herr“, sagte er, „wir fahren heute ausnahmsweise über den Bahnhof, weil auf unserer Strecke die Oberleitung gerissen ist. Aber normalerweise fährt die Neun nicht in diese Richtung.“

Er tippte an seinen Mützenschirm und ging wieder nach vom.

„Donnerwetter, das war eine schnell gewonnene Wette, Timm Thaler!“ lachte Herr Rickert. „Du hast bestimmt gewußt, daß die Oberleitung gerissen ist, stimmt’s?“

Traurig schüttelte Timm den Kopf. Er hätte die Wette lieber verloren. Immerhin war ihm jetzt klar, daß Herr Lefuet über Fähigkeiten verfügte, die man zumindest ungewöhnlich nennen mußte.

Am Bahnhof fragte Herr Rickert nach Timms Gepäck.

„Alles, was ich brauche, habe ich“, antwortete Timm sehr unbestimmt und sehr wenig kindlich. „Und meinen Paß habe ich im Jackett.“

Der Junge hatte wirklich einen Paß. Als er vierzehn geworden war, hatte er bei seiner Stiefmutter durchgesetzt, daß er einen eigenen Paß bekam. Er hatte darauf hingewiesen, daß er sich an den Wettschaltem vielleicht ausweisen müßte. Und dieser Hinweis hatte genügt; denn es war zu jener Zeit gewesen, in der Timm sich geweigert hatte zu wetten.

Nun zeigte sich, wie nützlich der Paß war. Denn Timm fuhr nach Hamburg.

Herr Rickert hatte ein Abteil der ersten Klasse gemietet. An der Tür stand auf einem Schildchen sein Name: Christian Rickert. Reedereidirektor. Aber darunter stand noch ein Name. Und als Timm ihn las, wurde er blaß. Er las: Baron Louis Lefuet.

Als sie sich setzten, fragte Herr Rickert: „Ist dir nicht wohl, Timm? Du bist plötzlich so blaß!“

„Das habe ich manchmal“, sagte Timm, und das entsprach ungefähr der Wahrheit. Denn wer auf dieser Welt wird nicht manchmal blaß?

Der Zug fuhr ein Stück am Ufer der Elbe entlang. Herr Rickert betrachtete Fluß und Ufer sichtbar mit Genuß. Timm sah nichts davon.

Die freundlichen Augen im Mopsgesicht musterten Timm manchmal verstohlen. Aber sie glitten immer sogleich wieder auf die Flußlandschaft zurück.

Herr Rickert machte sich Gedanken über den Jungen und versuchte endlich, ihn durch die Erzählung ulkiger Seefahrtsgeschichten aufzumuntern. Aber er merkte bald, daß der Junge zerstreut war und ihm nicht zuhörte.

Erst als Herr Rickert von selbst auf den Baron Lefuet zu sprechen kam, dessen Platz Timm einnahm, wurde der Junge sichtlich aufmerksam und sogar gesprächig.

„Der Baron ist wohl sehr reich?“ fragte Timm.

„Unermeßlich reich! Er hat in allen Teilen der Welt Unternehmungen. Die Hamburger Reederei, die ich leite, gehört ihm auch.“

„Wohnt der Baron in Hamburg?“

Herr Rickert machte mit den Händen eine unbestimmte Bewegung, die soviel sagte wie: Was weiß ich! „Der Baron wohnt überall und nirgends“, erklärte er dann. „Er ist heute in Hamburg, morgen in Rio de Janeiro und übermorgen vielleicht schon in Hongkong. Sein Hauptsitz ist, soviel ich weiß, ein Schloß in Mesopotamien.“

„Sie kennen ihn wohl sehr gut?“

„Niemand kennt ihn gut, Timm. Er verändert sich wie ein Chamäleon. Jahrelang hatte er, um dir ein Beispiel zu nennen, einen verkniffenen Mund und stechende Augen, von denen ich hätte schwören mögen, daß sie wasserblau waren. Als ich ihn gestern wiedersah, hatte er warme braune Augen. Auch setzte er nicht wie sonst auf der Straße eine Sonnenbrille auf. Das Merkwürdigste aber ist, daß dieser Mann, den ich vorher niemals habe lachen hören, gestern wie ein kleiner Junge lachte. Er preßte auch nicht ein einziges Mal die Lippen aufeinander, wie er es sonst zu tun pflegte.“

Timm blickte rasch zum Fenster hinaus. Unwillkürlich hatte er die Lippen aufeinandergepreßt.

Herr Rickert spürte, daß irgend etwas in seiner Erzählung den Jungen zugleich gefesselt und verstört hatte. Er wechselte das Thema.

„Was willst du eigentlich in Hamburg?“

„Ich will Kellnerlehrling auf einem Schiff werden!“ Wieder wunderte Timm sich über seinen plötzlichen Entschluß, den er im Augenblick gefaßt hatte, der aber nahelag; denn als irgend etwas muß man ja anfangen, wenn man zur See fahren will.

Das Mopsgesicht ihm gegenüber strahlte jetzt vor Gönnerstolz.

„Timm, du bist ein Glückspilz!“ sagte Herr Rickert beinahe feierlich. „Wenn du zum Bahnhof willst, fährt eine Straßenbahn extra deinetwegen zum Bahnhof; und wenn du eine Stellung brauchst, schneit dir genau der Mann in den Weg, der sie dir verschaffen kann!“

„Können Sie mich als Kellnerlehrling unterbringen?“

„Kellner auf Schiffen heißen Stewards“, korrigierte der Reedereidirektor. „Und du wirst vermutlich als Moses oder Messeboy anfangen. Wichtig ist im Augenblick nur eines: Sind deine Eltern einverstanden?“