Dann stiegen sie über die Marmortreppe hinunter zu dem Auto mit den sechs Türen.
Der Chauffeur riß ihnen die Schläge auf, und Lefuet und Timm sanken in die roten Lederpolster.
Daß vor und hinter ihnen Autos zur Bewachung fuhren, merkte Timm nicht. Er verstand auch die Rufe der Zeitungsverkäufer nicht, die auf den Straßen ihre Blätter feilboten:
„II barone Lefuet est morto! Adesso un ragazzo di quattordici anni il pio ricco uomo del mondo!“
Der Baron übersetzte die Rufe mit belustigt zuckendem Munde: „Baron Lefuet gestorben. Vierzehnjähriger Junge jetzt der reichste Mensch der Welt!“
An einer Verkehrsampel mußte der Wagen halten. Lefuet gab dem Jungen gerade Verhaltungsmaßregeln für den Empfang, zu dem sie fuhren. Aber Timms Aufmerksamkeit war ganz und gar in Anspruch genommen von einem kleinen, dunkelhäutigen Mädchen mit schwarzen Kugelaugen, das neben einem Obstverkäufer stand und mit weit aufgerissenem Munde in einen riesigen Apfel zu beißen versuchte. Als sie Timms Blicke bemerkte, nahm sie den Apfel vom Mund und lachte den Jungen an.
Timm winkte ihr zu und vergaß wieder einmal, daß jeder Versuch zu lachen traurige Folgen für ihn hatte.
Plötzlich sah das kleine Mädchen, wie das Gesicht hinter dem Autofenster sich fürchterlich verzerrte. Es erschrak, fing an zu weinen und verkroch sich hinter dem Obstverkäufer.
Timm nahm rasch die Hände vor das Gesicht und lehnte sich weit in die Polster zurück. Der Baron aber, der die Szene im Rückspiegel beobachtet hatte, kurbelte das Fenster herunter und rief der Kleinen lachend etwas auf italienisch zu.
Das Mädchen, mit noch tränennassen Wangen, lugte wieder hinter dem Obstverkäufer vor, trat zögernd ans Auto und reichte dem Baron schließlich den Apfel durch das Fenster. Als Lefuet ihr dafür eine blanke Münze hinhielt, strahlte sie, piepste ein „grazie, signore“ und lachte wieder.
In diesem Augenblick fuhr das Auto erneut an, und der Baron hielt Timm den Apfel hin. Aber im letzten Moment zog der Junge die Hand davon zurück, und die große rote Frucht, die wie lackiert glänzte, rollte von Timms Knien zu Boden und von dort nach vom zum Chauffeur.
„Sie müssen lernen, Herr Thaler“, sagte Lefuet, „Ihr Lachen künftig durch Trinkgelder zu ersetzen. In den meisten Fällen macht Trinkgeld einen größeren Effekt als Freundlichkeit.“
„Warum hast du dann mein Lachen gekauft?“ dachte Timm.
Laut sagte er: „Ich will mir’s merken, Baron!“
Achtzehnter Bogen. Im Palazzo Candido
Beim Palazzo Candido handelt es sich, wie der italienische Name verrät, um einen weißen Palast: außen weißer Marmor, innen weißer Stuck. Als der Baron und Timm die Treppe in den ersten Stock erstiegen - auch sie ist aus weißem Marmor - wurden sie von denizzi- und ozzi-Direktoren umschwärmt, an die der Junge sich von der Mole her dunkel erinnerte. Sie schwiegen ehrfurchtsvoll, denn der Baron sprach mit Timm.
„Dieser Palast“, sagte Lefuet halblaut, „ist ein Museum, für dessen Benutzung wir viel Geld bezahlen müssen. In seinen Räumen hängen Bilder alter italienischer und holländischer Meister. Wir werden sie uns ansehen müssen. Dergleichen gehört zu unserer Stellung. Da Sie von Kunst und Malerei vermutlich nichts verstehen, Herr Thaler, empfiehlt es sich für Sie, schweigend und mit ernster Miene die Bilder zu betrachten. Die Gemälde, vor denen ich huste, sollten Sie sich etwas länger ansehen. Heucheln Sie stummes Interesse.“
Timm nickte, ernst und stumm.
Aber als sie - ständig von dem Schwärm der Direktoren umgeben - die Bildergalerie abschritten, hielt Timm sich keineswegs an Lefuets Weisung. Die Bilder, vor denen Lefuet hustete, verließ er meistens ziemlich schnell. Bei anderen hingegen, vor denen Lefuet nicht hustete, hielt Timm sich sehr viel länger auf.
Das Museum enthielt hauptsächlich Porträts, gemaite Gesichter. Diejenigen der holländischen Maler hatten eine durchscheinende Haut (manchmal sah man sogar blaue Adern durchschimmern) und einen gesammelten Ausdruck bei schmallippigen Mündern. Die Porträts der italienischen Maler zeigten eine bräunliche, deckende Hautfarbe, eine schöne glatte Oberfläche, und Kringel in den Mundwinkeln, die ein Lächeln auf das Gesicht zauberten. Anscheinend waren die holländischen Gesichter berühmter, denn meistens hustete der Baron vor denen; aber Timm hatten es die anderen Gesichter angetan, die weniger verschlossenen, offenen Mienen mit dem Zwinkern in den Mundwinkeln. Er mußte manchmal von dem Baron geradezu gestoßen werden, um ein solches Bild zu verlassen. Denizzi- und -ozzi-Direktoren fanden den Geschmack des Jungen nicht schlecht. Als Lefuet es bemerkte, brach er die Besichtigung kurzerhand ab und sagte: „Wenden wir uns dem Hauptteil dieser Veranstaltung zu, meine Herren!“
Man begab sich nun in einen Saal, in dem Tische in Hufeisenform zusammengestellt und festlich gedeckt waren. Am Kopfende war ein Platz mit Lorbeerzweigen geschmückt. Dort sollte Timm sitzen.
Aber bevor man Platz nahm, erschien ein Photograph, ein schmächtiges quicklebendiges Männchen mit viel zu langem schwarzem Haar, das ihm ständig in die Augen fiel und das er dann mit einer herrischen Kopfbewegung zurückschleuderte. Er bat die Anwesenden, sich in einem Halbkreis um Timm zu gruppieren. (Zu den Direktoren war eine große Anzahl anderer Leute gekommen, denen Timm aber nicht die Hand schütteln mußte.)
Das photographische Männlein hatte seinen Apparat auf ein Stativ geschraubt, blickte durch den Sucher, dirigierte die Gesellschaft mit wildem Armefuchteln und schrie dazu fortwährend: „Ridere! Sorridere! Sorridere, prego! “
Timm, der vor Grandizzi stand, fragte den Direktor über die Schulter: „Was sagt er?“
„Er sagt, du sollst... Verzeihung, Sie sollen... Also, er sagt: Wir sollen laken!“
„Danke!“ sagte der Junge. Er war ungewöhnlich blaß. Der Photograph wandte sich jetzt direkt an ihn und wiederholte: „Sorridere, signore! Läkeln, bitte!“ Nun starrte alles auf den Jungen, der die Lippen zusammengepreßt hatte. Der Photograph wiederholte verzweifelt: „Läkeln, biite sarr!“ Der Baron, der noch hinter Grandizzi stand, sprang Timm mit keinem helfenden Wort bei.
Da sagte der Junge: „Mein Erbe ist eine schwere Bürde, Herr Photograph. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Erlauben Sie mir, das Lachen oder Weinen abzuwarten.“
Durch den Halbkreis, der ihn umgab, lief ein Flüstern. Teils übersetzte man die Worte leise, teils sprach man bewundernd oder verwundert über Timm. Nur Lefuet zeigte eine belustigte Miene.
Die Aufnahme kam jetzt jedenfalls zustande, und zwar ohne lächelnden Erben. Dann setzte man sich an den Tisch. Timm wurde von Grandizzi und dem Baron flankiert. Grandizzis Spitzentaschentuch strömte immer noch Nelkenduft aus. Es roch wie süßer Pfeffer.
Vor dem Essen wurden mehrere Reden gehalten, einige in Italienisch, einige in gebrochenem Deutsch. Und immer, wenn man lachte, rückte oder applaudierte, blickten sämtliche Leute auf den Jungen am Kopf der Tafel.
Einmal flüsterte der Baron ihm zu: „Sie haben sich mit Ihrer übereilten Wette kein leichtes Leben eingehandelt, Herr Thaler.“
Timm flüsterte zurück: „Ich wußte, was mich erwartet, Baron.“ (In Wirklichkeit war ihm nie schrecklicher zumute gewesen als hier zu Häupten der Tafel, wo man ihn anstarrte wie ein exotisches Tier. Aber der feste Vorsatz, sich dem Baron gewachsen zu zeigen, stärkte ihn und hielt ihn aufrecht.)
Einen kurzen Augenblick lang dachte Timm an Jonny, den Steuermann. Da war er plötzlich wieder der kleine Junge, der am liebsten geheult hätte. Aber zum Glück begann genau in diesem Augenblick die Rede Lefuets, und Timm hatte sich wieder in der Gewalt.
Der Baron rühmte zuerst die Fähigkeiten seines angeblich verstorbenen Bruders, sprach dann von den hohen Aufgaben der Leute, die großen Reichtum zu verwalten hätten, und wünschte zum Schluß mit ein paar kurzen Sätzen dem jungen Erben die Kraft und die Weisheit, ein so gewaltiges Erbe auf die rechte Weise zu nützen. Dann sagte er einige Worte auf italienisch. Es schien ein Scherz zu sein; denn er lachte wie ein kleiner Junge.