Die Damen und Herren an der Tafel waren davon so bezaubert, daß sie mitlachten und heftig klatschten.
Timm blieb diesmal unberührt davon. Er trug jetzt stets die Armbanduhr, die Herr Rickert ihm in Hamburg geschenkt hatte; und auf die blickte er gerade. Es war achtzehn Uhr dreißig, halb sieben. Um acht wollte er Jonny treffen. Und nach den Tellern, Gläsern und Bestecken auf dem Tisch zu urteilen, würde das Essen lange dauern. Er mußte also vielleicht eher aufbrechen als die übrige Gesellschaft. Und wie sollte er das anstellen, da er doch die Hauptperson war?
Tatsächlich nahm das Essen sehr viel Zeit in Anspruch. Als nach der Suppe und der Vorspeise das Hauptgericht kam - Nieren in Weißwein - war es bereits zwanzig nach sieben.
Timm hatte - mit den Gedanken immer bei Jonny - die Schwierigkeit vornehmer Tafelsitten gar nicht bemerkt. Er aß so, wie er es im Salon des Dampfers „Delphin“ gesehen hatte, und der Baron fiel über die ebenso natürlichen wie hübschen Manieren des Jungen von einem Verwundern ins andere. Er murmelte, als er die Gabel gerade zierlich in ein Nierenstückchen stach: „Den Burschen habe ich unterschätzt.“
Als es zwanzig Minuten vor acht war, beugte Timm sich hinüber zum Baron und sagte: „Ich müßte einmal... “
Lefuet erwiderte, ehe das peinliche Wort ausgesprochen war: „Die Waschräume befinden sich im Gang hinter der Tür rechts.“
„Danke“, sagte Timm, erhob sich und ging, von wenigstens hundert Augenpaaren verfolgt, an der Tischreihe entlang zur Tür rechts. Er bemühte sich dabei, so zu gehen, wie ein normaler Junge von vierzehn Jahren eben geht.
Draußen auf dem Flur kam ihn die Lust an, ein außerordentlich unanständiges Wort hinauszuschreien. Aber dort stand ein Diener in vergoldeter Livree; und also ging Timm ruhig und beherrscht in den Waschraum, wo er das Wort vor dem Spiegel dreimal sehr langsam und deutlich aussprach.
Als er wieder auf den Flur trat, hatte der livrierte Diener sich gerade abgewandt. So stakte Timm auf Zehenspitzen (denn Marmor hallt) zur Treppe und hastete dann nach unten.
Vor dem Portal des Palazzos stand eine Art Portier mit Goldschnüren. Aber er schien den Jungen nicht zu kennen. Er sah ihn mürrisch und teilnahmslos an. Timm war so kühn, ihn nach dem Denkmal des Christoph Columbus zu fragen. Aber der Mann verstand ihn nicht. Er zeigte hilflos auf eine Straßenbahnhaltestelle. Und zu dieser Haltestelle begab sich der Junge.
Neunzehnter Bogen. Jonny
Während Timm eine kleine Ewigkeit lang auf die Straßenbahn wartete, lugte er manchmal über die Schulter hinüber zum Portal des Palastes; aber außer dem Türhüter war dort niemand zu sehen. Noch schien man über sein langes Ausbleiben nicht beunruhigt zu sein. Ungeduldig studierte der Junge den Fahrplan, in dessen Mitte ein Spiegel als liegendes Rechteck eingelassen war. Und plötzlich erhielt er zum drittenmal an diesem Tage durch eine Spiegelung Aufschlüsse über das Wesen des Barons. Er sah in dem Glas nämlich, daß hinter einer Seitenfront des Palastes jenes Auto stand, mit dem er und Lefuet hergekommen waren. Hinter diesem Auto standen zwei andere Personenwagen, und neben dem vorderen unterhielten sich zwei Männer, deren einer gerade auf Timm zeigte.
Jetzt fiel dem Jungen an der Haltestelle ein, daß Direktor Grandizzi in der Barkasse von Detektiven gesprochen hatte, die ihn ständig bewachen sollten. Vermutlich waren dies seine heimlichen Wächter. Und das war übel; denn der Baron sollte nicht erfahren, daß Timm mit Jonny zusammentraf. Gerade jetzt kam die Straßenbahn. Sie zog zwei sogenannte Sommerwagen, deren Plattform nach beiden Seiten offen war.
Diese offenen Plattformen kamen Timm sehr gelegen. Seitdem er sein Lachen nicht mehr besaß, hatte er nach und nach gelernt, eine schwierige Lage kühl und ruhig zu durchdenken. So war ihm auch jetzt sofort klar, was er zu tun habe. Er stieg auf die Plattform des mittleren Wagens, drängte sich zwischen die Leute, die dort standen, und stieg, bevor die Straßenbahn anfuhr, auf der anderen Seite wieder aus. Dann rannte er über die Straße. Knapp vor einem vorbeiflitzenden Rennwagen kam er auf denjenseitigen Bürgersteig.
Bevor er dort in eine schmale Gasse hineinlief, drehte er sich rasch noch einmal um und sah, wie sich einer der Detektive gerade anschickte, die Straße zu überqueren. Da wußte Timm, daß nicht Schnelligkeit, sondern List nötig war, um seinen Bewachern zu entkommen. Zum Glück war er in das unübersichtliche Gassenviertel Genuas geraten, in dem die meisten Häuser Ausgänge nach zwei Seiten haben. So trat der Junge ruhig in eine Art Imbißstube ein, in der es nach Gebratenem und nach Olivenöl roch, verließ sie durch eine gegenüberliegende Tür wieder, kam in eine Gasse, in der vor den Häusern gegrillter Tintenfisch feilgeboten wurde, schlüpfte in einen Eingang, über dem das Wort „Trattoria“ stand, durchquerte die Trattoria, gelangte in ein Juweliergäßchen, hinter dessen Fenstern der Schmuck sich förmlich türmte, lief ein Stück an der Fensterfront entlang, bog in ein winziges Verbindungsgäßchen auf der anderen Seite ein, fand sich zwischen schwatzenden, feilschenden Hausfrauen auf einem winzigen Markt wieder, durchlief abermals eine Trattoria mit säuerlichem Weindunst und stand plötzlich vor der geöffneten Harmonikatür eines haltenden Autobusses. Rasch sprang der Junge hinein, und schon schloß sich die Tür hinter ihm, und der Autobus fuhr an.
Der Schaffner drohte ihm lächelnd mit dem Finger und hielt die Hand hin, um das Fahrgeld zu kassieren. Timm, der an Geld gar nicht gedacht hatte, griff unbewußt in eine Tasche seines rotschwarzen Jacketts und fühlte zu seiner Erleichterung, daß Münzen und Papiergeld darin lagen. Er gab dem Schaffner einen der Scheine und sagte: „Christoph Columbus.“
„Hm?“ fragte der Schaffner.
„Christoph Columbus! Denkmal!“ wiederholte der Junge, indem er sich einer besonders deutlichen Aussprache befleißigte.
Jetzt verstand der Schaffner ihn. „II monumento di Cristoforo Colombo“, verbesserte er in belehrendem Ton. Und Timm wiederholte artig: „II monumento di Cristoforo Colombo!“
„Bene! Bene!“ lachte der Schaffner. „Gutt! Gutt!“
Dann gab er dem Jungen 85 Lire zurück, riß einen Fahrschein für Timm ab und machte durch Zeichen verständlich, daß er ihn rechtzeitig zum Aussteigen auffordern werde.
Timm nickte ernsten Gesichtes und dachte: „Glück gehabt!“ Freuen konnte er sich darüber nicht; aber er war erleichtert.
Zehn Minuten später - der Autobus war zuerst am Hafen entlang und dann eine steigende Gasse hinaufgefahren - zehn Minuten später tippte der Schaffner auf Timms Schulter und zeigte auf ein großes weißes Denkmal zwischen Palmen, das vor einem riesigen Gebäude mit vielen Glastüren stand.
Der Junge sagte das einzige Wort Italienisch, das er kannte: Grazie! Danke! Dann verließ er den Autobus und stand verloren auf einem weiten Platz. Er erkannte jetzt, daß das große Gebäude eine Bahnhofshalle war. Die Uhr über dem Haupteingang zeigte fünf Minuten vor acht.
Unter den Menschen auf dem Platz konnte er keinen der beiden Detektive entdecken. Aber den Steuermann Jonny sah er leider auch nicht. So schlenderte er, betont langsam, hinüber zum Denkmal, umschritt es und fand hierbei den Steuermann, der in seiner ganzen Größe neben einem Palmenstamm stand.
Timm konnte ihn schwerlich übersehen. Er lief auf ihn zu und hätte ihn am liebsten umarmt, wenn Jonny nicht so ungewöhnlich groß gewesen wäre.
„Ich bin entkommen, Jonny“, sagte er atemlos. „Der Baron hat mir Detektive auf den Hals gehetzt. Aber... “