„Der Baron?“ unterbrach ihn scharf der Steuermann. „Ich dachte, der wäre tot!“
„Er hat sich in seinen angeblichen Zwillingsbruder verwandelt.“
Jonny pfiff durch die Zähne. Dann nahm er Timms Hand und sagte: „Wir setzen uns in eine kleine Kneipe. Dort findet er uns nicht so schnell.“ Und er zog den Jungen durch etliche Gassen hinter sich her.
Das, was Jonny „Kneipe“ genannt hatte, verdiente eigentlich einen besseren Namen. Es war ein langer Schlauchraum, der sich nach hinten in ein halbdunkles, fast quadratisches Gastzimmer verbreiterte. Der Fußboden bestand aus gehobelten Brettern, und an sämtlichen Wänden standen bis hinauf zur Decke Flaschen aller Formen und Farben auf dunkelbraunen Holzregalen. Es sah fast feierlich aus; wie eine Kathedrale aus Flaschen.
Der Steuermann zog Timm an einen unbesetzten Tisch in einer Ecke des hinteren Raumes. Hier konnten sie von der Tür aus nicht gesehen werden. Als der Kellner kam, bestellte Jonny zwei Viertel Rotwein. Dann zog er links und rechts aus den inneren Brusttaschen seiner Joppe zwei Flaschen Rum hervor, stellte sie unter Timms Stuhl und sagte: „Hier ist dein Wettlohn. Ich verstecke ihn wegen des Kellners. Er könnte glauben, wir wollten hier mitgebrachte Getränke süffeln.“
Timm zog jetzt auch etwas aus seiner Brusttasche. Es war der Brief an Herrn Rickert.
„Würdest du ihn mit nach Hamburg nehmen, Jonny? Ich habe Angst, ihn der Post anzuvertrauen.“
„Wird gemacht, mein Junge!“ Der Brief wechselte hinüber in die Steuermannsjoppe. Dann sagte Jonny: „Du siehst jetzt wie ein richtiger feiner Pinkel aus, Timm. Reichseinmachtwohl Spaß?“
„Es ist ein bißchen mühsam“, antwortete Timm. „Aber man kann sich benehmen, wie man will. Man braucht nie zu lachen, wenn man nicht mag - außer vielleicht beim Photographen - und das hat viel für sich.“
„Hast du denn was dagegen, wenn man lacht?“ fragte Jonny verblüfft.
Timm merkte, daß er sich verplappert hatte. Er durfte ja niemandem verraten, daß er sein Lachen verkauft hatte. Aber ehe er seinen Fehler durch irgendeine harmlose Erklärung wieder gutmachen konnte, redete Jonny schon weiter. Der Steuermann schien bei dem Thema Lachen in seinem Fahrwasser zu sein; denn er sprach glatter und sogar ein bißchen feiner als sonst.
„Ich gebe zu“, sagte er, „daß das Lachen aus Höflichkeit einem auf die Nerven gehen kann. Nichts ist gräßlicher als ein Seemannsheim, in dem dich von früh bis spät alte Tanten anlächeln. Sie lächeln, wenn sie dich vor dem Alkohol warnen; sie lächeln, wenn sie dir Sauerkraut auf den Teller tun; sie lächeln, wenn sie dich zum Beten ermahnen; sie lächeln sogar, wenn sie dir den Blinddarm aus dem Bauch schneiden. Lächeln, lächeln, morgens, mittags und bei Nacht. Wahrhaftig, das ist unausstehlich! Aber... “
Der Kellner kam mit dem Wein und lächelte die beiden geschäftsmäßig an. Timm sah mit zuckenden Lippen auf die Tischplatte nieder, und Jonny merkte verwundert, daß der Junge dem Weinen nahe war. Deshalb schwieg er, als der Kellner wieder gegangen war. Er hob nur das Glas und sagte: „Prosit, Timm! Auf dein Glück!“
„Prosit, Jonny!“
Timm nippte nur von dem Wein, der säuerlich schmeckte.
Beim Niedersetzen des Glases brummte Jonny: „Wenn ich doch herausbekommen könnte, was los ist!“
Timm hatte den gemurmelten Satz verstanden. Er wurde plötzlich lebhaft und flüsterte: „Versuche, Kreschimir zu sprechen. Er weiß alles, und er darf es dir sagen. Ich kann es nicht. Ich darf es nicht.“
Der Steuermann sah den Jungen nachdenklich an und sagte schließlich: „Ich glaube, ich weiß, mit wem du es zu tun hast.“ Dann beugte er sich über den Tisch zu Timm vor und fragte eindringlich: „Hat der Kerl dir Hokuspokus vorgemacht?“
„Nein“, sagte Timm. „Vorgemacht hat er mir nichts; aber er hat mir einen alten Spruch aufgesagt.“ Und nun er«zählte der Junge dem Steuermann von dem Gespräch im Salon des Hotels, von der merkwürdigen Beschwörung und von dem heruntergestürzten Kronleuchter.
Die Geschichte von dem Kronleuchter schien Jonny ungeheuer zu belustigen. Er brüllte vor Lachen, schlug vergnügt auf die Tischplatte, daß die Gläser tanzten und der Wein überschwappte, und prustete: „Das ist ja zum Piepen, Junge! Das ist unbezahlbar! Weißt du, daß du den Affen damit an seiner empfindlichsten Stelle getroffen hast, Timm? Ernstlich, Kleiner!“
Jonny lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. „Du konntest nichts Besseres tun, als den Kronleuchter zu zerdeppern. So was verträgt dieser Herr nicht! Besonders nicht in solchen Augenblicken.“
Der Steuermann erhob mit belustigtem Gesicht die Arme, wie es Lefuet bei der Beschwörung getan hatte, und sprach mit spöttischer Bedeutsamkeit:
„Der Herr der Ratten und der Mäuse, Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse!“
Timm hatte sich unbewußt ebenfalls in seinem Stuhl zurückgelehnt. Es war für ihn so beruhigend, jemanden über den Baron lachen und spotten zu hören. Zum erstenmal seit langer Zeit hörte er wieder ein Lachen, das ihm angenehm war.
Bei Jonnys spöttischer Beschwörung hatte Timm den Blick gesenkt. Er schaute auf den Holzfußboden und sah dort plötzlich eine ungeheuer fette Ratte, die ein satanisch hohes Pfeifen ausstieß und furchtlos auf Jonnys Beine zulief, als wolle sie ihn beißen.
Timm, den es vor Ratten ekelte, schrie: „Eine Ratte, Steuermann!“
Aber auch Jonny hatte das Tier bereits gesehen. Er handelte unwahrscheinlich schnell und geistesgegenwärtig. Während er das eine Bein, auf das die Ratte es anscheinend abgesehen hatte, zurückzog, hob er das andere blitzschnell und zerquetschte der Ratte mit einem kräftigen Fußtritt den Kopf. Was auf den Bodenbrettem liegenblieb, war so häßlich und ekelhaft, daß Timm rasch wegsah. Ihm war übel.
Jonny aber, der unverwüstliche Jonny, sagte grinsend: „Der Herr schickt seine Boten vor. Trink vom Wein, Timm, und sieh nicht hin!“
Diesmal nahm der Junge einen tiefen Schluck aus dem Glas, der fast unmittelbar wirkte. Die Übelkeit ließ nach; aber in seinem Kopf begann sich langsam eine Mühle zu drehen.
Jonny sagte jetzt: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, Timm. Bald wird er selbst erscheinen. Laß dir eines sagen: Woran du nicht glaubst, das gibt es nicht! Verstehst du, was ich meine?“
Timm schüttelte verständnislos den Kopf, in dem das Mühlrad immer schneller kreiste.
„Ich will damit sagen“, erklärte Jonny, „daß du immer wieder Kronleuchter zerdeppern solltest, wenn der Baron dir auf die Nerven geht. Kapiert?“
Jetzt nickte Timm. Aber er erfaßte nur halb, was Jonny sagte. Die Augenlider wurden ihm schwer; denn er hatte schon im Palazzo Candido Wein trinken müssen, und er war an Alkohol nicht gewöhnt.
„Wenn du kannst, lach den Affen aus“, fuhr Jonny fort. „Du erbst genug, um dir die Freiheit nach außen zu erkaufen; aber die Freiheit nach innen, mein Junge, die erkaufst du dir durch ein anderes Kapitaclass="underline" durch Gelächter. Es gibt ein altes englisches Sprichwort. Es heißt...“
Der Steuermann runzelte die Stirn.
„Merkwürdig“, brummte er. „Eben wußte ich den Spruch noch, und jetzt ist er mir entfallen. Dabei liegt er mir auf der Zunge. Scheint am Wein zu liegen.“
„Mir bekommt der Wein auch nicht“, sagte Timm mit schwerer Zunge. Aber Jonny achtete kaum auf Timms Bemerkung. Er grübelte immer noch über den Satz nach, und plötzlich rief er: „Jetzt hab’ ich ihn: Teach me laughter, save my soul! Daß ich darauf nicht gleich gekommen bin!“ Er lachte über seine eigene Vergeßlichkeit, schlug sich dabei an die Stirn und sank mit einem Male, immer noch lachend, vom Stuhl zu Boden, wo er regungslos und mit bleichgewordenem Gesicht unweit der toten Ratte liegenblieb.
Als Timm, mit einem Schlag ernüchtert, auf sprang und sich erschrocken nach Hilfe umsah, fiel sein Bück auf den Kellner, der gleichmütig herüberschaute. Er nahm gerade von einem Herrn einen Geldschein entgegen. Dieser Herr hatte Timm den Rücken zugekehrt; aber dennoch erkannte der Junge ihn auf den ersten Blick. Es war der Baron.