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Sofort war Timm wieder in jener angespannten Gemütsverfassung, die es ihm erlaubte, anders zu handeln und zu reden, als es seiner Natur gemäß war. Äußerlich ruhig, winkte er den Kellner heran und kniete dann neben Jonny nieder, der in der Ohnmacht langsam und schwerfällig, aber klar verständlich den englischen Spruch wiederholte: „Teach me laughter, save my soul!“

Gleich darauf sah Timm über sich den Kellner und dahinter den Baron.

„Herr Thaler, welch ein Zufall!“ rief Lefuet in gutgespielter Überraschung. „Wir suchen Sie seit einer Stunde.“

Timm sagte, ohne auf die Worte des Barons einzugehen: „Wenn dem Steuermann etwas Ernstliches zugestoßen ist, zeige ich Sie an, Baron! Und den Kellner ebenfalls!“

Jetzt war Lefuet belustigt. „Kein Grund zu irgendwelchen Aufregungen“, lächelte er. „Gesundheitlich hat er keinerlei Schaden genommen. Wir werden ihn allerdings aus unserem Dienst entlassen müssen. Aber ein Mann von solchen Kräften findet ja leicht Beschäftigung auf den Docks.“

Die Gäste des Lokals hatten sich inzwischen neugierig an den Tisch gedrängt und gaben in wildem Durcheinander gute Ratschläge. Offenbar hielten sie Jonny für betrunken.

Lefuet, der Aufsehen jeder Art stets zu vermeiden suchte, zog Timm an einem Ärmel mit sich fort. „Ihr Bild, Herr Thaler, steht heute in allen Zeitungen. Es wäre peinlich, wenn man Sie hier erkennt. Um den Steuermann brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Kommen Sie!“

Obwohl es Timm widerstrebte, den ohnmächtigen Jonny zu verlassen, ließ er sich dennoch vom Baron hinaus und auf die Straße führen.

Lefuet durfte nicht merken, wie es in Wahrheit um ihn stand. Überdies hatte der Junge das seltsame Gefühl, daß bei diesem verworrenen Spiel mit einer toten Ratte, einem ohnmächtigen Steuermann und einem englischen Sprichwort nicht der Baron, sondern Jonny der Gewinner war. Innerlich ruhiger, als man hätte vermuten können, verließ Timm die Kneipe mit den Flaschen an den Wänden.

Das sechstürige Auto, das draußen stand, nahm fast die ganze Breite der Gasse ein. Dahinter standen zwei andere Autos, und Timm sah zwei wohlbekannte Herren darin sitzen. In einer Anwandlung von Übermut nickte er ihnen höflich zu, und die beiden nickten -leicht verblüfft - wieder.

In den roten Lederpolstern des Rücksitzes saß Direktor Grandizzi. Als Timm und der Baron sich neben ihm niederließen, rief er kichernd: „Ah, die kleine Ausreißer! Sie habben uns särrr an Nase herumgefihrt, signore; aber meine kluge Freind Astaroth... “

„Schnauze, Behemoth! Diese Masche zieht bei ihm nicht!“ fuhr der Baron den Direktor laut und ungewohnt grob an. Gleich darauf aber wandte er sich liebenswürdig an Timm und erklärte dem Jungen, daß Grandizzi und er Mitglieder des sogenannten Baalclubs seien und daß sie sich manchmal aus Ulk mit den Clubnamen anredeten.

Timm war es, als habe er den Baron schon einmal von Astaroth und Behemoth reden hören; aber er erinnerte sich nicht, wann und wo das gewesen sein könnte. Außerdem wiederholte er in seinem Gedächtnis ständig den englischen Spruch, den Jonny ihm gesagt hatte.

Als das Auto am Denkmal des Christoph Columbus vorbeifuhr, sagte Lefuet: „Wir fliegen morgen früh nach Athen, Herr Thaler. Das Flugzeug gehört der Gesellschaft. Ab acht Uhr steht es für uns bereit.“

Timm nickte, ohne etwas zu erwidern. In Gedanken wiederholte er wenigstens zum zehnten Male den englischen Spruch, und endlich fragte er Grandizzi: „Was heißt eigentlich: Tietschmilafter sefmeisohl?“

„Was für eine Sprake iist das?“ erkundigte sich Grandizzi.

„Es ist englisch“, sagte mit ruhiger Stimme der Baron. „Ein altes Sprichwort und genauso dumm wie die meisten Sprichwörter.“

Er wiederholte den Satz in korrektem Englisch: „Teach me laughter, save my soul.“ Dann übersetzte er ihn halblaut ins Deutsche: „Lehre mich lachen, rette meine Seele.“

Timm sagte so kühl wie möglich: „Aha!“ Weiter nichts. Aber heimlich prägte er sich den Satz ein und hängte ein beruhigendes Wort an den Schluß: „Lehre mich lachen, rette meine Seele, Steuermann!“

Zwanzigster Bogen. Klarheit in Athen

In Athen, der alten Hauptstadt Griechenlands, hatte die größte Zweiggesellschaft der Baron-Lefuet-Gesellschaft ihren Sitz. Vielleicht war der Baron hier deshalb so ungemein lebhaft und liebenswürdig. Er verschonte Timm hier auch, so gut es ging, mit Direktoren und Banketts. Stattdessen wanderte er mit dem Jungen zu Fuß durch die Straßen. Allerdings folgte ihnen in angemessener Entfernung ein Auto, das auf einen Wink Lefuets jederzeit an den Bordstein fahren konnte, um sie aufzunehmen.

Der Baron führte Timm nicht zu den Stätten, deretwegen die meisten Fremden nach Athen kommen. Er erstieg mit ihm nicht die Akropolis, zwischen deren Tempelsäulen man das heitere Blau des Ägäischen Meeres leuchten sieht; er führte ihn nicht zu den marmornen Statuen, die von den Grübchen im Knöchel bis zu den Kringeln in den Mundwinkeln voll himmlischen Gelächters stecken; er zeigte ihm nicht, wie hell der Himmel über weißen Tempeln strahlt. Er führte ihn vielmehr zum Markt von Athen.

„Von dem Geld, das hier verdient wird, geht wenigstens die Hälfte durch meine Hände“, sagte er. „Als mein Erbe, Herr Thaler, müssen Sie wissen, wo unser Reichtum gemacht wird. Ist es nicht eine Lust, diese Farben zu sehen?“

Lefuet hatte Timm zuerst in die Straßen der Fische geführt. Glotzäugig und zuweilen mit leuchtenden roten Streifen unter den Kiemen, lagen die Fische zu Tausenden in großen offenen Eisschränken. Der Reichtum des Meeres war üppig ausgebreitet. Da glitzerte viel Silber und stählernes Blau, und dazwischen sah man Streifen und Flecken gellenden Rots und matten Schwarzes. Der Baron sah dies; alles mit den Augen des Händlers an.

„Der Thunfisch kommt von den Türken“, erklärte er. „Wir kaufen ihn billig ein. Der Stockfisch kommt aus Island. Er ist unser bestes Geschäft. Barboni, Tintenfische und Sardellen kommen aus Italien oder von den griechischen Fischern. Daran ist nicht viel zu verdienen. Aber kommen Sie weiter, Herr Thaler, kommen Sie, kommen Sie!“

Lefuet war wie berauscht auf diesem Markt. Sie standen jetzt vor einer Kalkwand, an der geschlachtete, abgezogene Schafe hingen, die Zungen seitwärts aus dem Maul gestreckt.

„Diese Schafe kommen aus Venezuela“, sagte der Baron. „Und die Schweine dort haben wir in Jugoslawien gekauft. Ein gutes Geschäft.“

„Kommt eigentlich außer den Fischen auch etwas aus Griechenland?“ fragte Timm.

„O ja“, lachte Lefuet, „einiges kommt auch aus dem Lande: Korinthen, Wein, Bananen, Kuchen, Olivenöl, Granatäpfel, Wolle, Stoffe, Feigen, Nüsse, Auberginen und Bauxit.“

Lefuet hatte die Aufzählung so feierlich gesprochen, als sei es das Geschlechtsregister des Königs David aus der Bibel. Er war mit Timm inzwischen in die Käsestraße geraten, in der viel weißer Käse ausgebreitet lag. Der ganze Spaziergang war ein Stoßen und Schieben zwischen schreienden Verkäufern und laut handelnden Kunden. Bei den Fischen wafen sie durch Pfützen gewatet, in denen Zwiebelringe schwammen; bei den Schafen waren sie genötigt gewesen, Blutlachen zu umgehen; und als sie zwischen die Obststände gerieten, war der Boden von Schalen glatt.

Vor Timm streiften drei Buben herum und stahlen unter den Augen der Menge eingelegte Oliven. Niemand nahm Anstoß daran, nicht einmal die Verkäufer, die nur böse und kurz aufbellten, um ihre Aufmerksamkeit sofort danach wieder zahlungsfähigen Kunden zuzuwenden. Die kleinen Diebe lachten.