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„Ziehen Sie, bitte, diesen Pullover über, und stellen Sie sich vor den Prospekt, Herr Thaler!“ Lefuet trug inzwischen den Photoapparat samt Stativ vorsichtig in die Mitte des Pavillons.

Timm tat alles, um was Lefuet ihn bat, wie im Traum. Bilder der Vergangenheit überschwemmten seine Gedanken: Der Vater. Die Stiefmutter. Der bleiche Erwin. Die Kuchenfreundin seiner Stiefmutter aus dem Haus ganz links. Frau Bebbers Laden rechter Hand. Die Sonntage. Die Wetten. Das Verhör am Abend. Ein karierter Herr. Ein Vertrag.

Der Junge mußte sich für einen Augenblick auf den Stuhl setzen. Lefuet beschäftigte sich mit dem Photoapparat.

Endlich war es soweit. Der Baron gab dem Pullover, den Timm jetzt trug, einen absichtlich schlampigen Sitz, brachte die Haare des Jungen ein wenig durcheinander und stellte ihn vor das Gassenphoto. Dann trat er zurück und hinter den Apparat.

„So ist es gut, Herr Thaler! Bleiben Sie dort stehen. Und nun sprechen Sie mir nach: Ich leihe mir mein Lachen nur für eine halbe Stunde. Dies verspreche ich bei meinem Leben.“

„Ich leihe mir mein Lachen... “ Timms Stimme versagte.

Aber sofort kam der Baron ihm zu Hilfe: „Sprechen Sie es in Blöcken nach. Das ist einfacher. Also: Ich leihe mir mein Lachen... “

„Ich leihe mir mein Lachen... “

„... nur für eine halbe Stunde.“

„... nur für eine halbe Stunde.“

„Dies verspreche ich... “

„Dies verspreche ich... “

„... bei meinem Leben!“

„... bei meinem Leben!“

Kaum hatte Timm das letzte Wort gesagt, als Lefuet seinen Kopf wieselflink unter das schwarze Tuch steckte. Es war wie in der Kasperlkomödie. Timm fühlte eine unbezwingbare Lust zu lachen und - lachte. Das kullerte aus dem Bauch herauf, kitzelte in der Kehle und entlud sich in einem so fürchterlichen Gelächter, daß der Bauch schmerzte und die Augen sich mit Wasser füllten. Der Pavillon dröhnte von Timms Lachen, der Stuhl neben dem Jungen bebte, als lache er mit. Die Welt schien sich wieder in ihr Gleichgewicht einzupendeln. Timm Thaler lachte.

Der Baron blieb unter dem schwarzen Tuch verborgen und wartete das Gelächter ab. Seine Hand, die sich am Blitzlicht zu schaffen machte, zitterte.

Timm, der sich nur langsam beruhigte, zog nun eine fröhliche Grimasse und fragte: „Ist dies das Margarine-Lächeln, das Sie brauchen, Baron?“ Ihm war leicht, heiter, übermütig zumute. Der Baron kam ihm immer noch wie ein Kasperl vor. Er glaubte nicht an die halbe Stunde; er war überzeugt, sein Lachen für ewig wiederzuhaben. Für Lefuet unter dem schwarzen Tuch, für den Baron ohne Lachen, fühlte er fast eine Art Mitleid. Selbst die gequetschte Stimme, mit der Lefuet dem Jungen jetzt Anweisungen gab, erregte eher Timms Mitleid als seinen Spott. Gehorsam stellte er das rechte Bein vor, neigte den Kopf etwas zur Seite, lächelte, sagte auf Lefuets Bitte das Wort „Bienenstich“ (in seinem Gedächtnis klingelte dabei eine Glocke), nahm den Fuß wieder zurück und lachte erleichtert auf, als das Blitzlicht flammte.

„Hoffentlich ist es ein gutes Photo geworden, Baron!“ Timm streckte sich nach dem anstrengenden Stillstehenmüssen ausgiebig und grinste fröhlich in die Optik des Photoapparates. Lefuet blieb unter dem schwarzen Tuch verborgen. Er erklärte mit verdecktem Kopf, auf eine Aufnähme allein könne man sich nicht verlassen. Er müsse mindestens noch drei Aufnahmen machen.

„Und das alles für ein bißchen Margarine“, lachte Timm. Aber er sperrte sich nicht, sondern ließ sich gehorsam wie zuvor korrigieren und mit lachendem Mund photographieren.

Nach der vierten und letzten Aufnahme war Timm so steif vom Posieren und Stillstehen, daß ihm schien, es müsse mindestens eine Stunde vergangen sein. Daß in Wirklichkeit immer noch zwei Minuten an der versprochenen halben Stunde fehlten, ahnte der Junge nicht. Er begriff auch nicht, warum Lefuet den Kopf immer noch unter dem Tuch verborgen hielt. Deshalb ging er hin, schlug das Tuch zurück und fragte unter Lachen: „Stellen Sie etwa im Verborgenen schon Margarine her, Baron?“

Aber das Lachen verging ihm, als das enthüllte Gesicht ihn von unten herauf ansah, ein böses schmallippiges Gesicht mit schwarzen Gläsern, das Gesicht des karierten Herrn!

Timm begriff, daß sein eigenes Lachen ihn getäuscht hatte: Dieser Mann gab ihm die lachende Freiheit nicht zurück. Dieser Mann war fürchterlich.

Aber noch einmal täuschte das Gelächter im Bauch den Jungen, drängte nach oben und ließ Timm spöttisch ausrufen: „Spielen Sie nicht den Teufel, Baron! Ihr Spiel ist ausgespielt. Sie sehen mich nicht wieder.“

Mit einem Sprung war der Junge an der Glastür. Er riß sie auf und rannte in einem alten Pullover unter strömendem Regen auf die Parkterrasse hinaus.

Obwohl ihm der Baron nicht folgte, stürzte Timm wie besessen in einen schmalen Gang hinein, den hohe Eibenhecken begrenzten. Dieser Gang lief in ein Gewirr anderer Gänge aus.

Timm lief einmal nach links, dann wieder nach rechts, stand plötzlich vor einer dicken, undurchdringlichen grünen Wand, rannte zurück, landete wieder in einer Sackgasse, stürzte abermals zurück, wischte sich den Regen aus den Augen und verlief sich hoffnungslos in diesen seltsamen Gängen, die nur einen einzigen Ausgang zu haben schienen: den Eingang.

Mit einem Male fühlte Timm sich schwer werden, als stiege schwarzes Wasser in seinen Gliedern auf. Er spürte körperlich, daß ihn sein Lachen verließ. Er stand, tropfend zwischen tropfenden grünen Gefängniswänden, wie ein Gelähmter. Der Regen kullerte in die Pfützen zu seinen Füßen. Rings ein einziges Rinnen, Platschen und Herunterfallen, ein großes, endloses Weinen. Und mitten darin der sehr kleine Timm mit seinem ernsten traurigen Gesicht.

Aber plötzlich war sein Lachen wieder da, das Lachen mit dem Schlucker, wie es sich gehörte. Der Junge wußte nicht: Hatte er selbst gelacht, oder steckte sein Lachen zwischen den Eibenwänden?

Die Erklärung war viel einfacher: Lefuet stand hinter dem Jungen.

„Sie sind in ein sogenanntes Labyrinth geraten, Herr Thaler, in einen Irrgarten. Kommen Sie, ich führe Sie hinaus.“

Willig ließ Timm dem Baron eine Hand, willig ließ er sich im Pavillon trockenreiben und umkleiden, willig ließ er sich von einem Bedienten unter dem Regenschirm ins Schloß geleiten.

Erst im Turmzimmer kam er langsam wieder zu sich. Und diesmal erleichterten keine Tränen den Jungen. Diesmal packte ihn eine kalte Wut. Ein hochstieliges rotes Glas, das auf einem Regal stand, zerdrückte er mit solchem Ingrimm, daß die Hand zu bluten begann.

Timm ließ die Scherben einfach auf den Boden fallen, zog an der gestickten Klingelschnur und zeigte, als der Diener erschien, stumm mit der blutenden Hand auf die roten Glasscherben.

Der Diener räumte die Scherben fort, wusch und verband die Hand und sagte dann zum erstenmal vier Wörter: „Ich nix Detektiv, bitte!“

„Vielleicht! Vielleicht auch nicht“, antwortete Timm. „Aber ich danke Ihnen, daß Sie so freundlich zu mir sind.“

Selek Bei erschien und schickte den Diener hinaus. Dann starrte er auf Timms Hand: „Hast du nicht unterschrieben? Ist etwas geschehen?“

„Nichts von Bedeutung, Selek Bei. Ich habe unterschrieben.“

„Wo ist der Füllfederhalter?“

„Hier in der Tasche. Würden Sie ihn, bitte, herausholen.“

Der Alte tat es, und Timm fragte: „Was bedeutet dieser Füllfederhalter?“

„Er ist mit einer Tinte gefüllt, die langsam verblaßt und nach und nach ganz verschwindet. Wenn unsere Gesellschaft in einem Jahr die Timm-Thaler-Margarine ankündigt, wird unter dem Vertrag im Safe Ihre Unterschrift fehlen. Dann können Sie verhindern, daß die Margarine auf den Markt kommt. Tim Sie es aber erst dann, wenn alle Welt schon über die Markenmargarine unterrichtet ist!“