„Wird die Gesellschaft dadurch vor die Hunde gehen, Selek Bei?“
Der Alte lachte über die Frage. „Nein, mein Junge, dafür ist sie trotz allem zu stabil. Aber die Gesellschaft wird gewaltige Verluste erleiden. Bis eine neue Sorte da ist, werden die Konkurrenten nicht müßig sein. Unsere Gesellschaft wird mit der Zeit trotzdem enorm an der Markenmargarine verdienen; aber sie wird niemals den Markt beherrschen.“
Selek Bei setzte sich nun in die Eckbank am Fenster und sah in den Regen hinaus. Abgewandten Gesichts sagte er: „Ich weiß nicht, ob du und ich den Baron jemals überlisten werden. Er ist klüger als wir beide zusammen. Trotzdem will ich versuchen, dir zu helfen. Unter den Händen des Barons scheint dir das Lachen vergangen zu sein; und ich möchte, daß du wieder lachen lernst!“
Als Timm erschrocken etwas sagen wollte, winkte Selek Bei ab: „Sag lieber nichts, mein Junge! Aber setze auch keine allzu großen Hoffnungen in meinen Versuch. Lachen, Timm, ist keine Handelsware wie Margarine. Wer damit handelt, handelt irrig. Um Lachen feilscht man nicht. Lachen verdient man.“
Das Telefon läutete. Da die rechte Hand des Jungen verbunden war, ging Selek Bei zum Apparat, hob den Hörer ab, meldete sich, lauschte, verdeckte dann die Sprechmuschel und sagte halblaut: „Ein
Herr aus Hamburg wünscht dich dringend zu sprechen!“
Timm überlegte blitzschnell. Er hatte versprochen, mit seinen Hamburger Freunden ein Jahr lang keine Verbindung aufzunehmen. Andernfalls würde Herrn Rickert vermutlich etwas zustoßen. Also mußte der Junge seinen alten Freund zu dessen eigenem Wohl verleugnen. Er legte deshalb einen Finger auf die Lippen, und Selek Bei sagte: „Herr Thaler ist bereits abgereist.“ Und legte den Hörer auf, aber merkwürdig zögernd.
Kurz darauf verließ der alte Mann den Jungen, der sich ans Fenster stellte und in den gleichmäßig weiterrinnenden Regen hinaussah.
In einem Jahr würde Timm die Hamburger Reederei besitzen und Herrn Rickert schenken; in einem Jahr würde seine fehlende Unterschrift ein Königreich aus Margarine in Verwirrung stürzen; in einem Jahr würde er Kreschimir und Jonny, Herrn Rickert und dessen Mutter wiedersehen; in einem Jahr...
Der Junge wagte nicht, sich das mögliche Glück auszumalen. Aber er hoffte darauf. Auch hoffte er, dieses Weltreise-Jahr in Begleitung Lefuets ruhig und mit Anstand zu überstehen.
Und Hoffnung hißt Fahnen der Freiheit.
VIERTES BUCH. DAS WIEDERGEFUNDENE LACHEN
Wo der Mensch lacht, hat der Teufel Beine Macht verloren.
Frau Bebber
Siebemindzwanzigster Bogen. Ein Jahr im Flug
Das Welt-Reise-Jahr wurde für Timm ein Jahr im Fluge. Es begann in der kleinen zweimotorigen Privatmaschine, die den Jungen und den Baron nach Istanbul flog. Wieder sah Timm dabei Frauen und Männer, die ihre Esel durch das Gebirge trieben. Aber sie waren ihm nicht mehr fremd wie beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte. Ihre Kleidung glich derjenigen Selek Beis und einiger Schloßbediensteter. Er fühlte, obwohl er die Leute da unten nicht kannte, daß er sie gern hatte. Er empfand für sie Wohlwollen und Mitleid. So wie für die Scherenschleifer von Afghanistan.
In Istanbul blieben die beiden eine Woche lang. Timm begleitete den Baron in Moscheen und Bildergalerien und fand fast eine Art Gefallen an der Reise. Er war durch die Ereignisse im Schloß für eine Weile entmutigt worden, seinem Lachen nachzujagen.
Zugleich aber nährte er die Hoffnung, in einem Jahr werde alles anders werden. Im Gedanken an Selek Bei und seine Freunde in Hamburg fühlte er eine so ruhige Zuversicht, daß er allen Ernstes glaubte, sein Lachen werde ihm nach dieser Reise von selbst in den Schoß fallen, wie ein reifer Apfel vom Baum fällt. Diese Hoffnung barg die Gefahr in sich, daß Timm selbst nichts mehr tun würde, sein Los zu ändern, daß er sich mit seiner beklagenswerten Lage abfände.
Aber zugleich hatte Timms äußerlicher Gleichmut einen Vorteiclass="underline" Der Baron wiegte sich in Sicherheit. Lefuet glaubte, Timm habe sich mit seinem Los abgefunden, und wurde nachlässig in der Überwachung des Jungen. Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat wurde er sicherer, daß Timm Thaler wachsenden Gefallen an der Rolle des reichen Erben fände und daß er das Leben eines milliardenschweren Weltenbummlers gegen nichts mehr eintauschen werde, nicht einmal gegen sein Lachen.
Tatsächlich wurde Timm auf dieser Reise seltener an sein verlorenes Lachen erinnert als je zuvor. Auf die sehr reichen Leute nimmt man in den sehr feinen Hotels große Rücksicht. Wenn ein Hoteldirektor spürt, daß ein solcher Gast nicht lachen mag, weiß im Handumdrehen das ganze Personal, vom Chefportier bis zum Zimmermädchen, daß in der Nähe dieses Gastes nicht gelacht werden darf. Und die Folge: Es lacht wirklich niemand in seiner Nähe.
Aber die Welt besteht - auch für sehr reiche Leute - nicht nur aus feinen Hotels. Selbst Milliardäre brauchen manchmal frische Luft. Und bei allen Spaziergängen, die Timm allein oder in Begleitung des Barons unternahm, merkte der Junge, wie sehr die Welt voll Lachen steckt.
Nach Istanbul sah Timm ein zweites Mal Athen. Auf Athen folgte Rom, auf Rom Rio de Janeiro, auf Rio folgten Honolulu, San Francisco, Los Angeles, Chicago und New York. Es ging nach Paris, Amsterdam, Kopenhagen und Stockholm, nach Capri, Neapel, Teneriffa, Kairo und Kapstadt. Man flog nach Tokio, Hongkong, Singapur und Bombay; Timm sah den Kreml in Moskau und die Brücken von Leningrad, er sah Warschau und Prag, Belgrad und Budapest. Und überall, wo ihr Flugzeug landete, hörte Timm auf den Straßen das Gelächter der Welt: Er hörte das Lachen der Schuhputzer von Belgrad und der Zeitungsjungen in Rio; die Blumenhändler von Honolulu lachten wie die Tulpenfrauen in Amsterdam; es lächelte der Kesselschmied von Istanbul wie der Wasserverkäufer in Bagdad; man kicherte und scherzte auf den Brücken von Prag genau so wie auf den Brücken von Leningrad; und im Theater von Tokio klatschte und lachte man nicht anders als im Theater auf dem Broadway in New York.
Der Mensch braucht das Lachen wie die Blume den Sonnenschein. Gesetzt den Fall, das Lachen stürbe aus: Die Menschheit würde ein zoologischer Garten oder eine Gesellschaft von Engeln: langweilig, ernst und von erhabener Gleichgültigkeit.
Timm bewahrte, so ernst er auch erscheinen mochte, den Wunsch und die Sehnsucht, lachen zu können. Wenn er auch äußerlich zufrieden schien: Er wäre mit Freuden ein Bettler von New York geworden, hätte er dadurch einstimmen dürfen in das Gelächter der Welt!
Aber über sein Lachen verfügte ein anderer. Jemand neben ihm, manchmal nur wenige Schritte von ihm entfernt, besaß sein kullerndes Bubenlachen. Und Timm - so schlimm das ist -gewöhnte sich in diesem Jahr beinah daran. Er nahm es hin und kümmerte sich um andere Dinge. Er lernte.
Er lernte alles, was ein sogenannter Herr von Welt können oder wissen muß. Er konnte auf die appetitlichste Weise Hummer, Fasan und Kaviar essen; er konnte Austern schlürfen und Champagnerflaschen entkorken; er kannte die geläufigsten Höflichkeitsfloskeln von „es hat mich gefreut“ bis zu „es war mir eine Ehre und ein Vergnügen“ in dreizehn Sprachen; er kannte die Höhe der Trinkgelder in allen berühmten Hotels der Welt; er konnte kleine Reden aus dem Stegreif halten und Grafen, Herzöge und Prinzen auf vorgeschriebene Weise anreden und behandeln; er wußte, welche Socken und Krawatten zusammenpassen und daß man nach sechs Uhr abends keine braunen Schuhe mehr trägt (after six no brown, sagt der Engländer); er lernte, beim Heben einer Tasse niemals den kleinen Finger abzuspreizen; er lernte ein wenig Französisch, Englisch und Italienisch unterwegs und ohne Wörterbuch; er lernte, wie man interessiert aussehen kann, wenn man sich langweilt; er lernte Tennis, Segeln, Autofahren und sogar, wie man ein Auto repariert; er lernte so gut, sich zu verstellen, daß der Baron entzückt war.