„Wo finde ich Herrn Denker?“
Der Fahrer blickte auf seine Armbanduhr und sagte: „Jetzt ist er in seinem Hauptkontor. Am Hafen. Brücke sechs.“
„Fahren Sie uns zur Brücke sechs und warten Sie dort auf uns. Wenn ich schon bezahlen soll ... “
„Nicht nötig“, brummte der Taxifahrer, und wieder hatte Timm das unbestimmte Gefühl, diese Stimme schon einmal gehört zu haben.
Kurz vor dem Hafen mußte das Auto längere Zeit an einer Verkehrsampel warten. Timm sah vor sich Kräne und Mastspitzen, eine Zeichnung aus senkrechten Linien vor dem taubenblauen Septemberhimmel. Obwohl das Fenster geschlossen war, vermeinte er, den Geruch des Hafens zu spüren: nach Salz und Teer und mildem Moder.
Dieser Geruch, den seine Einbildungskraft schon beschwor, ehe er überhaupt da war, überspülte sein Gedächtnis mit Erinnerungen: In diesem Hafen hatte er sich dem Baron an die Fersen geheftet; hier hatte seine Jagd begonnen, eine Jagd durch verwirrendes Dickicht, eine Jagd ohne Beute.
Jetzt war der Junge an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Was er allein nicht hatte erjagen können, hoffte er hier, mit seinen Freunden zu erjagen.
Ein Kran schwenkte eine große Kiste durch die Luft, auf deren Bretter eine Palme gemalt war. Timm nahm sie nur flüchtig wahr; er betrachtete die Vorübergehenden. Er hoffte, daß Jonny oder Kreschimir oder Herr Rickert darunter seien. Sie gehörten ja zu diesem Bild vor ihm, zu den Kränen und Masten, zu diesem Wald, in dem die Wimpel blühten. Aber er entdeckte keinen der drei. Er wußte nicht einmal, ob er sie überhaupt finden würde. Ihm war beklommen zumute. Als das Auto wieder anfuhr, erleichterte ihn die bloße Bewegung.
Auch der Baron hatte während des Wartens an der Ampel stumm den Hafen betrachtet. Aber geträumt hatte er nicht; die große Kiste mit der aufgemalten Palme hatte er mit wachen Augen gesehen. Er wußte, daß Palmaro-Margarine verladen wurde.
Unter dem Weiterfahren wanderten die Gedanken beider Fahrgäste zu der Reederei, die sie jetzt zu kaufen beabsichtigten, zum Hamburg-Helgoland-Gästedienst. Lefuets Gedanken konnte man in drei Wörter zusammenfassen: Ein gutes Geschäft.
Die Gedanken und Empfindungen Timms waren weitläufiger. Seine Beklommenheit wurde durch Hoffnung gemildert, seine Zuversicht durch eine leise Furcht beengt. Ihm selber lag nichts an dieser Reederei; ihm lag nur an einem auf der Welt: an seinem Lachen, an seiner Freiheit. Aber er mußte dieses papierene Spiel um Reichtümer, das man Geschäft nennt, durchstehen. Wenn er selber schon von all seinem Reichtum nichts hinüberretten konnte in das neue Leben, sollten doch wenigstens seine Freunde einigen Nutzen davon haben. Diese Reederei sollte ein Teil seines Dankes sein -sofem er das zurückbekam, für das er danken wollte!
Das Auto hielt jetzt vor der Brücke sechs. Lefuet und Timm stiegen aus und begaben sich in das Hauptkontor des HHD, wo der alte Herr Denker, der Eigentümer, sie zu ihrem großen Erstaunen mit offenen Armen empfing.
„Das ‘s würklich ein sehr merkwürdiger Zufall, meine Herren“, sagte er. „Ich s-piel grode mit ‘n Gedanken, meine Reederei zu verkaufen, und da. komm’ Sie ins Kontor und wolln sie kaufen. Würklich merkwürdig.“
Herr Denker hätte die Sache vermutlich weniger merk«würdig gefunden, wenn er den Taxifahrer erkannt hätte, der vor der Brücke auf Timm und den Baron wartete. Aber er sah ihn zum Glück nicht. Und selbst wenn er ihn gesehen hätte: Erkannt hätte er ihn vermutlich ebenso wenig, wie Timm ihn erkannte.
Dieser Taxifahrer nestelte jetzt übrigens mit sehr behutsamen Fingern an seinem Bart herum. Manchmal blickte er verstohlen in den Rückspiegel. Dann sah er ein anderes Taxi, das etwa hundert Meter hinter ihm gehalten hatte, dessen Fahrgast aber nicht ausstieg.
Als der Baron und Timm nach einer knappen Stunde das Kontor des Herrn Denker verließen, hatten sie jeder drei Schnäpse getrunken und einen sogenannten Vorvertrag in der Tasche. Am folgenden Tag schon sollte ein gültiger Vertrag ausgefertigt werden.
Der Fahrer des Taxis tat, als schliefe er. Lefuet, der gutgelaunt war, öffnete sich selbst den Schlag. Timm stieg von der anderen Seite ins Auto.
Erst jetzt schien der Chauffeur zu erwachen. Er spielte den Aufgeschreckten sehr gut. Als der Baron ihm Anweisung gab, zum Hotel „Vier Jahreszeiten“ zu fahren, stotterte er sogar auf durchaus glaubwürdige Weise.
„Wußten Sie übrigens“, fragte ihn Lefuet während der Fahrt, „daß der Hamburg-Helgoland-Gästedienst gerade verkauft werden sollte?“
„Nein“, sagte der Fahrer. „Aber wundem tut’s mich nicht. Der alte Herr Denker ist nicht mehr der Kräftigste, und seine Töchter haben sich ja wohl auszahlen lassen. Die Seefahrt scheint denen zu schmutzig zu sein. Sind Sie am HHD interessiert, wenn ich fragen darf?“
Der Baron, immer noch in strahlender Laune, sagte: „Ich besitze ihn bereits.“
„Donnerwetter, das ging aber mal schnell. Fast so schnell wie bei Schwan-Kleb-An, wenn Sie die Geschichte kennen: Man braucht nur hinzulangen, und schon klebt man dran.“
Ein sehr flüchtiger Blick des Fahrers streifte im Rückspiegel Timms Gesicht, das bei der Bemerkung des Chauffeurs zuerst gezuckt hatte und dann starr, beinahe steinern geworden war. Wie so oft verbarg Timm hinter der starren Miene eine ungeheure Aufgeregtheit.
Diese Aufregung war begreiflich: Endlich hatte der Fahrer sich zu erkennen gegeben. Durch einen Hinweis, der dem Baron völlig harmlos erscheinen mußte. Durch eine Anspielung auf das Märchen Schwan-Kleb-An, in dem eine Prinzessin das Lachen lernte. Es war das Zeichen, das Timm im geheimen erwartet hatte, das Zeichen dafür, daß seine Freunde wachsam waren.
Schwan-Kleb-An! Das erste Signal für die beginnende Jagd.
Timm wußte jetzt genau, wer der Fahrer vor ihm war. Es kroch ihm etwas aus dem Bauch die Kehle herauf, aber kein Kullern, das lachen wollte, sondern so ein Gefühl, das einen unfähig zum Sprechen macht. Man nennt es wohl auch einen Kloß in der Kehle.
Das Taxi war inzwischen zur Alster eingebogen und hielt vor dem Hotel. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Türen. Er zeigte sich zum erstenmal in seiner ganzen stattlichen Größe.
Jetzt konnte für Timm kein Zweifel mehr sein, um wen es sich handelte.
Als der Baron bezahlt hatte und sich dem Hoteleingang zuwandte, konnte Timm sich nur mit Mühe zurückhalten, den Riesen zu umarmen. Heiser vor Aufregung flüsterte er: „Jonny.“
Der Fahrer nahm die entstellende Brille ab, sali den Jungen an und sagte laut: „Auf Wiedersehen, junger Herr!“ Dabei gab er ihm die Hand. Dann setzte er die Brille wieder auf, stieg ins Auto und fuhr davon.
Timm fühlte ein kleines Papier in seiner Hand, einen winzigen Zettel, einen Fetzen, ein Nichts genaugenommen. Und doch fühlte er sich mit diesem Fetzen Papier reicher als mit allen Aktien der Baron-Lefuet-Gesellschaft, einschließlich der Stimm-Aktien.
Beinahe glücklich folgte er Lefuet ins Hotel, in dessen Vestibül ihnen bereits der Direktor entgegenkam, mit weit geöffneten Armen.
„Herr Baron, welche Ehre!“ schienen seine Hände zu sagen, die sich zu Schalen des Entzückens geöffnet hatten. Aber bevor der Direktor sein Willkommen auch aussprechen konnte, legte der Baron einen Finger auf die Lippen: „Bitte, kein Aufsehen! Wir sind inkognito hier. Mister Brown und Sohn, Kaufmann aus London.“
Die Direktorenarme fielen herunter. Der Mann machte eine korrekte Verbeugung: „As you like it, Mister Brown! Your bagage is already here!“
Timm fand das Ganze ungeheuer belustigend. Er hätte jetzt den Direktor umarmen mögen, so sehr hatte ein kleiner Zettel die ganze Welt für ihn mit einem Schlage verändert.
Aber Timm umarmte niemanden, er lachte auch nicht. Wie sollte er auch? Er sagte ernst und höflich, wie es ihm in langen traurigen Jahren zur Gewohnheit geworden war: „Thank you veiy much!“