Neunundzwanzigster Bogen. rgessene Gesichter
Während der Weltreise hatte Timm sich an die ständige Beschattung durch Detektive gewöhnt. Die Leute hatten ihre Aufgabe unauffällig und zurückhaltend erfüllt. Einige Male hatte der Junge die beiden Herren aus Genua wiedererkannt. Beunruhigt hatten sie ihn nie mehr, da er auf der Reise den gehorsamen Begleiter Lefuets gespielt hatte.
Jetzt aber, mit dem kostbaren Zettel in der Jackett-Tasche, witterte Tim hinter jeder Vorhangfalte einen Detektiv. Er wagte nicht, den Zettel herauszunehmen und zu lesen. Auch ließ Jonnys Maskerade und seine gespielte Zurückhaltung vermuten, daß Timms Freunde genau so beschattet würden wie er selber.
Schließlich - der Baron hatte sich für eine Stunde niedergelegt -ging der Junge in das Bad, das zu seinem Appartement gehörte, riegelte hinter sich ab, setzte sich auf die Kante der blaugekachelten Wanne und zog hier den Zettel aus der Tasche.
Das Papierchen war nicht größer, als vier Briefmarken sind. Eine Seite war mit einer winzigen Schrift bedeckt. Aber diese Schrift konnte der Junge mit bloßem Auge nicht lesen. Er brauchte eine Lupe.
Wie aber kam Timm zu einer Lupe? Während er den Zettel wieder in die Tasche steckte, überlegte er: Wenn er von einem Hotelangestellten eine Lupe erbat, würden es die Detektive erfahren. Wenn er eine kaufte, würde der Detektiv im Laden fragen, was der Junge gekauft habe. Wie also unauffällig zu einer Lupe kommen?
Timm hörte, wie jemand klopfte und anscheinend sein Appartement betrat. Er glaubte, es sei Lefuet, ließ vorsichtshalber das Spülwasser der Toilette rauschen, ließ den Riegel der Tür möglichst leise zurückschnappen und ging in den Salon zurück.
In diesem Salon stand ein runder Tisch mit vier Sesseln. In dem Sessel, der Timm beim Eintreten genau gegenüber stand, hockte vornübergebeugt eine ältere, stark geschminkte Frau, die sich lächerlich bunt und jung gekleidet hatte. Die etwas strohigen Haare waren zu Löckchen gerollt. Im Sessel neben ihr saß ein blasser, langaufgeschossener Jüngling, der statt einer Krawatte eine grellbunte, übermäßig lange Fliege trug. Timm war es plötzlich, als röche das Zimmer nach Pfeffer, Kümmel und Anis.
Mit der Stiefmutter und Erwin hatten die beiden Besucher nur entfernte Ähnlichkeit. Aber sie waren es.
Timm stand stumm in der Tür. Auf diese Gesichter war er nicht gefaßt gewesen. Er hatte nur einen Atemzug lang gebraucht, um sie wiederzuerkennen. Aber es brauchte einige Zeit, ehe er aus den veränderten Gesichtem die alten Züge hervortreten sah. Und da sah er zum erstenmal in seinem Leben, daß es dumme Gesichter waren.
Er hörte seinen Vater sagen: „Verachte die Dummheit, wenn sie nicht gutmütig ist.“ Er sah jetzt, was er als kleiner Junge nur dumpf und unklar geahnt hatte. Er begriff, daß sein Vater die beiden da vor ihm durchschaut hatte. Er begriff auch, daß er als Kind sein Lachen bewahrt hatte, weil es den Vater gab.
Timms Augen waren feucht geworden, nicht vor Rührung, sondern vor erstauntem Starren. Das Gesicht der Stiefmutter verschwamm, und das Gesicht der Spenderin seines Lachens schob sich davor: das Gesicht seiner Mutter. Schwarze Haare und glänzende schwarze Augensterne, eine haselnußbraune Hautfarbe und Kringel in den Mundwinkeln.
Und auch das begriff Timm in diesem Augenblick: daß seine Zuneigung zu den Bildern des Palazzo Candido in Genua ein Wiedererkennen gewesen war. Aus jedem der italienischen Portraits hatte ihn das Gesicht seiner Mutter angeblickt. Jedes dieser Bilder war das Gesicht seiner Herkunft und - hoffentlich - auch das seiner Zukunft.
Die Stiefmutter war bei Timms Erscheinen in die Höhe geschnellt, auf den Jungen zugestöckelt und ihm ganz einfach um den Hals gefallen. Timm - von Erinnerungen an seine Mutter überschwemmt - hätte fast in einer Verwirrung seiner Gefühle die Stiefmutter umarmt. Aber er war nicht mehr der arme kleine Junge. Er hatte gelernt, Unbegreiflichkeiten und Verworrenheiten zu meistem. Er schob die Stiefmutter sanft und schweigend von sich. Und sie ließ es geschehen. Sie schluchzte ein bißchen, trippelte zum Tisch, auf dem ihre Handtasche lag, nestelte ein Taschentuch heraus und betupfte sich die falschen Augenwimpern.
Erwin war nun auch aufgestanden. Er schlenkerte auf seinen Stiefbruder zu, gab ihm eine sehr weiche Hand und sagte: „Tag, Timm!“
„Tag, Erwin!“
Mehr konnten sie einstweilen nicht sagen; denn die Tür wurde aufgerissen, und der Baron kam atemlos ins Zimmer.
„Was sind das für Leute?“
Natürlich ahnte der Baron, um wen es sich handelte; und Timm wußte das. Dennoch stellte er seine ungebetenen Gäste höflich vor:
„Darf ich Sie mit meiner Stiefmutter, Frau Thaler, bekanntmachen, Baron? Der junge Herr ist mein Stiefbruder Erwin.“
Dann stellte er, betont förmlich und mit der eingelernten hübschen Handbewegung, seinen Widersacher vor: „Baron Lefuet!“
Die Stiefmutter hob ihre rechte Hand bis beinahe unter das Kinn Lefuets (anscheinend erwartete sie einen Handkuß) und zwitscherte: „Sehr angenehm, Herr Baron!“
Lefuet ließ die Hand unbeachtet.
„Spielen wir kein Theater, Frau Thaler! Damit haben Sie, wie es scheint, sowieso kein Glück gehabt.“
Die Stiefmutter, die schon den Mund geöffnet hatte, um dem Baron aufgeregt zu antworten, änderte plötzlich ihre Taktik. Sie wandte sich Timm zu, betrachtete ihn mit süßem Entzücken im säuerlichen Gesicht, trat einen Schritt zurück und sagte: „Du siehst wie ein richtiger Herr von Welt aus, mein Junge! Ich bin sehr stolz auf dich. In den Zeitungen haben wir alles über dich gelesen, nicht wahr, Erwin?“
Ihr Sohn murmelte - mit deutlichem Unbehagen - eine Art „mja“. Das Verhältnis zu seiner Mutter schien immer noch dasselbe zu sein. Verwöhnt und verhätschelt von ihr und an sie gefesselt, weil er unfähig war, seine Wünsche ans Leben allein zu befriedigen, war diese Frau ihm gleichwohl peinlich in Gegenwart anderer. Er nutzte ihre Affenliebe aus; aber er ertrug sie schwer.
Timm war jetzt froh, daß die Stiefmutter ihn von dieser Liebe ausgeschlossen hatte. Sie hätte seine Kraft gebrochen; sie hätte ihn außerstande gesetzt, widerstandsfähig zu bleiben in der Hölle der verflossenen Jahre.
Timm war diese Begegnung so nützlich wie notwendig. Wieder einmal erkannte er, daß er einen Kreis durchlaufen hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, aber um einige Drehungen höher. Von der Gassenwohnung bis hierher hatte er auf gewundenen Wegen einen Berg erstiegen, und nun sah er den Anfang des Weges tief unter sich. Und er sah, daß seine Stiefmutter und Erwin immer noch an derselben Stelle standen und keinen Schritt weitergekommen waren. Obwohl sie hier im Appartement des Hotels „Vier Jahreszeiten“ dicht neben ihm standen, waren sie so fern von ihm, daß er kaum ihre Stimmen hörte.
Die Stiefmutter sagte gerade: „Wir werden jetzt immer bei dir bleiben und für dich sorgen, Timm. Du bist ja der reguläre Erbe des Ganzen, und morgen wirst du sechzehn und... “
„... und keineswegs volljährig!“ belehrte sie der Baron.
Frau Thaler wandte mit einem Ruck den Kopf. In ihre Augen kam das falsche Feuer, das man „hektischen Glanz“ nennt und an das Timm sich gut erinnerte. (Aber er erinnerte sich daran wie an das feuchte Glänzen von Kuhaugen, die man einmal gefürchtet hat und die man beim Wiedererkennen ein bißchen dumm und völlig ungefährlich findet. „Wie dumm, unter der Dummheit zu leiden“, dachte Timm heute.)
Lefuet erklärte jetzt mit belustigt zuckendem Munde, warum Timm mit seinem sechzehnten Jahr noch nicht volljährig sei: „In diesem Lande, Frau Thaler, wird der Mann erst mit einundzwanzig Jahren mündig, kommt also dann erst in den vollen Genuß einer Erbschaft. Sie haben vermutlich erfahren, daß ich die Staatsbürgerschaft eines Landes besitze, in dem der Mann mit sechzehn Jahren volljährig wird; aber das hat nichts mit Ihrem Stiefsohn Timm zu tun. Er untersteht nach wie vor den Gesetzen dieses Landes. Erst wenn er einundzwanzig ist, kann er die Erbschaft regulär antreten.“