Diese List hatte den gewünschten Erfolg. Die Lesung und Unterzeichnung wurde auf den nächsten Tag verschoben, und Timm konnte obendrein (nachdem er folgsam zwei Tabletten geschluckt hatte) an der Alster vor dem Hotel Spazierengehen. („Frische Luft wirkt Wunder“, hatte einer der Rechtsanwälte zu ihm gesagt.)
Da Timm wußte, daß irgendwo in seiner Nähe ein Detektiv auf ihn achtgab, holte er die Lupe nicht sofort und auffällig unter der roten Bank hervor. Er kaufte sich vielmehr zunächst eine Zeitung, und damit setzte er sich auf die Bank. (Wo die Lupe lag, hatte er bereits entdeckt.)
Beim Lesen hielt er die Zeitung so, daß der Innenteil herausrutschte und über eines seiner Knie unter die Bank flatterte. Nun bückte sich der Junge und hob zusammen mit den Zeitungsblättern die Lupe auf. Hinter der Zeitung versteckt, ließ er sie in eine Brusttasche seiner Anzugjacke gleiten. (Timm trug jetzt meistens Anzüge aus grauem Flanell oder mit winzig kleinen Karos.)
Eine Viertelstunde später faltete der Junge die Zeitung zusammen, ließ sie für irgendeinen Vorübergehenden auf der Bank liegen und ging ins Hotel. Als er beim Empfang seinen Schlüssel holte, gab der Portier ihm ein zusammengefaltetes Papier. Es war eine kurze Nachricht des Barons:
„Sollten Sie sich wohler fühlen, kommen Sie doch, bitte, in mein Appartement.
Lefuet“
Timm ging hinauf zum Baron. Aber zuvor suchte er kurz sein eigenes Appartement auf, legte die Lupe in die kleine Hausapotheke an der Wand des Badezimmers und steckte das winzige Papier Jonnys zusammengerollt in ein fast leeres Glasröhrchen für Kopfschmerztabletten. Dann erst begab er sich zum Baron.
Lefuet pflegte bei wichtigen Gesprächen einen Notizzettel mit Stichworten in der Hand zu haben. Auch diesmal sah Timm ein solches Zettelchen. Es standen drei Wörter darauf, die untereinandergeschrieben waren. Der Junge konnte sie nicht genau entziffern; zweifellos handelte es sich bei dem ersten Wort jedoch um den Nam en „Rickert“.
„Morgen, Herr Thaler“, begann der Baron das Gespräch, „morgen läuft die Frist für unsere kleine Abmachung über Herrn Rickert ab. Wenn Sie bis morgen keine Verbindung mit Ihren Hamburger Freunden aufnehmen, wird Herr Rikkert wieder als Reedereidirektor eingesetzt werden. Er kann aber seines Alters wegen sofort ehrenvoll pensioniert werden. Mit einem hohen monatlichen Ruhegehalt. Leider müssen wir morgen nach Kairo fliegen, weil eine ägyptische Firma auf den Markennamen Palmaro Anspruch erhebt. Wenn Sie also mit Ihren Hamburger Freunden sprechen möchten, müßten Sie es heute tun. Dann wäre aber unsere Abmachung nicht erfüllt, und Herr Rickert müßte weiter Hafenarbeiter bleiben.“
„Hafenarbeiter?“ fragte Timm erschrocken.
„Ja, Herr Thaler: Hafenarbeiter. Er ist übel dran. Es geht ihm gar nicht gut in seinem Alter. Ich denke daher, daß Sie ihn aus seiner traurigen Lage befreien und keine Verbindung mit Herrn Kreschimir, Herrn Jonny und Herrn Rickert aufnehmen werden, oder?“
Lefuet sah den Jungen mit beinahe ängstlicher Aufmerksamkeit an. Und Timm wußte, warum: Einer seiner Freunde mußte den Schlüssel zu seinem Lachen in der Hand haben, und der Baron schien das zu ahnen. (Er vermied diesmal auch jede Andeutung eines Lachens.)
„Herr Rickert soll wieder Reedereidirektor werden!“ sagte Timm fest.
„Dann bleibt es also bei unserer Abmachung, Herr Thaler?“
Der Junge nickte. Aber sein Nicken war eine Lüge. Er dachte gar nicht daran, seine Freunde zu meiden. Im Gegenteiclass="underline" Er mußte sie noch an diesem Tage treffen, da es morgen zu spät war. Trotzdem würde Herr Rickert Reedereidirektor werden; aber nicht bei dem Baron, sondern in Timms eigener Reederei, die ihm heute morgen überschrieben worden war, beim HHD.
Lefuet blickte auf seinen Notizzettel (er schien sichtlich erleichtert) und sagte: „Punkt zwei, Herr Thaler, betrifft...“ Der Baron zögerte, sprach das Wort aber dann doch aus: „Punkt zwei betrifft Ihr Lachen.“
Wieder ein forschender Blick auf Timm. Aber der Junge hatte durch den Baron selber gelernt, Gemütsregungen hinter der Maske des Gleichmuts zu verbergen. Sogar seine Stimme hatte er in der Gewalt, als er fragte: „Was ist mit meinem Lachen, Baron?“
„Vor einem Jahr, Herr Thaler, habe ich im Roten Pavillon meines Schlosses erprobt, ob und wieviel Ihnen noch an Ihrem Lachen liegt. Ich lieh es Ihnen damals für eine halbe Stunde, und ich erfuhr bei diesem kleinen Experiment, daß Sie immer noch heftig nach Ihrem Lachen verlangten. Eben habe ich, ohne daß Sie es bemerkt haben, wieder eine kleine Probe angestellt. Diesmal ist das Ergebnis erfreulich. Sie verzichten freiwillig auf eine Begegnung mit den drei einzigen Leuten, die von unserem Vertrag wissen und die Ihnen notfalls Ratschläge geben könnten.“
Der Baron lehnte sich zufrieden in seinen Sessel zurück. „Offenbar haben Sie im letzten Jahr gelernt, Macht, Reichtum und ein angenehmes Leben höher einzuschätzen als ein kleines Lachen.“
Timm nickte nur. Und diesmal war es eine halbe Lüge. Er hatte tatsächlich Gefallen daran gefunden, immer gut gekleidet zu sein und jederzeit behagliche Zimmer, ein Bad und reichlich Kleingeld zur Verfügung zu haben. Aber so groß war sein Gefallen an diesen Dingen nicht, daß er dafür auf ewig ein Mensch ohne Lachen bleiben wollte.
„Ich schlage Ihnen nun...“ (Lefuet beugte sich wieder vor) „... einen Zusatzvertrag vor.“
„Welchen, Baron?“
„Folgenden, Herr Thaler: Ich verpflichte mich, Ihnen die Staatsbürgerschaft eines Landes zu besorgen, in dem Sie mit dem heutigen Tage volljährig sind und sofort Ihr Erbe antreten können.“
„Und wozu muß ich mich verpflichten, Baron?“
„Zu zweierlei, Herr Thaler: erstens niemals Ihr Lachen zurückzufordem, zweitens mir die Hälfte des Erbes, einschließlich der Stimm-Aktien, abzutreten.“
„Ein bemerkenswerter Vorschlag“, sagte Timm langsam, um Zeit zu gewinnen. Natürlich dachte er nicht im Traume daran, amtlich und mit Stempel und Siegel auf sein Lachen für alle Zeit zu verzichten; aber das durfte Lefuet nicht wissen.
Dem Baron mußte gerade heute Sand in die Augen gestreut werden, damit Timm möglichst unbelästigt von Lefuets Detektiven seine Freunde besuchen konnte. Ein Zettelchen und eine Lupe sollten ihm den Weg zu ihnen verraten.
Dem Jungen kam jetzt ein guter Gedanke: Wenn er mit dem Baron feilschen würde, müßte Lefuet noch fester davon überzeugt sein, daß Timm endgültig auf sein Lachen verzichtet und eingesehen habe, daß Macht und Reichtum wichtiger seien als so ein kleines Kullern aus dem Bauch herauf.
Also fing Timm zu feilschen an. Er wisse, so sagte er, daß der Baron bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag mancherlei unternehmen könne, um zu verhindern, daß er das Erbe antrete. Senhor van der Tholen habe ihn bereits darauf aufmerksam gemacht. Er sei deshalb durchaus bereit, diesen Zusatzvertrag zu unterzeichnen; aber er müsse drei Viertel des Erbes verlangen, einschließlich drei Viertel der Stimm-Aktien.
Dem Jungen entging das flinke Lächeln nicht, das bei diesen Worten über Lefuets Gesicht huschte. Offenbar schien der Baron jetzt ganz sicher zu sein, daß Timm auf sein Lachen verzichten werde. Und das hatte der Junge ja beabsichtigt.
Sie feilschten eine halbe Stunde lang. Zum Schluß lauteten Timms Forderungen: Drei Viertel des Erbes und die Hälfte der Stimm-Aktien.
„Erfüllen Sie mir diese Forderungen, Baron, dann können wir morgen in Kairo den Zusatzvertrag unterzeichnen.“
„Das muß ich erst überschlafen, Herr Thaler! Morgen, wenn wir in Kairo sind, gebe ich Ihnen darüber endgültigen Bescheid.“
„Und nun...“ (der Baron lächelte) „... komme ich zu meinem letzten Punkt.“ Er erhob sich, gab Timm die Hand und sagte: „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem sechzehnten Geburtstag! Wenn Sie einen Wunsch haben, Herr Thaler... “