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Aber da war noch das Wort „schwarze“, das vor „Stunde“ stand. In Klammem und mit einem Ausrufezeichen. Was aber ist eine schwarze Mittagsstunde?

Wieder ging ihm der Sinn einer ziemlich einfachen Verschlüsselung nicht sogleich auf.

Aber dann war auch dieses Rätsel gelöst: Gemeint war die schwarze Zeit um zwölf Uhr. Also Mitternacht! (Und bis dahin waren es noch sieben lange Stunden.)

Der Rest der Nachricht war wieder einfach zu begreifen: Fürchte die Ratte und täusche sie. Der Weg ist einfach. Aber wähle Hintertreppen, um zu ihm zu gelangen. Vertrau uns und kommt Timm sollte sich also vor Lefuet in acht nehmen und heimlich das Hotel verlassen, vielleicht sogar in einer Verkleidung; denn in dem Wort „Hintertreppen“ steckte (wie in Hintertreppenromanen) die Romantik der Schurken und verkleideten Helden: Hintertreppen-Romantik.

Der Junge fühlte sich, als er den geheimnisvollen Zettel entschlüsselt hatte, leicht wie ein Vogel. Ein Drang zu lachen stieg in ihm auf. Und das Seltsame war, daß seine Lippen sich dabei nicht wie sonst hart aufeinanderpreßten. Im Gegenteiclass="underline" Ihm war, als lächele sein Mund.

In freudigem Erschrecken sprang Timm auf und betrachtete sein Gesicht im Spiegeclass="underline" Es hatte Kringel in den Mundwinkeln wie die italienischen Porträts des Palazzo Candido in Genua. Es war kein Lachen, nicht einmal ein Lächeln, wenn man es genau nahm; aber die Kringel in den Mundwinkeln waren eindeutig da. Und seit dem Vertragsabschluß unter dem Kastanienbaum waren sie nie mehr dagewesen.

Es hatte sich also schon etwas geändert an diesem Tage. Die Hoffnung hatte wie der Pinsel eines Malers etwas auf sein Gesicht gezaubert: den Anflug eines Lächelns.

Timm steckte das Zettelchen wieder in eine Tasche seiner Anzugjacke, löschte das Licht, verließ das Bad und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in einen Sessel des Salons, um nachzudenken.

Der Baron saß während dieser Zeit - nicht weit von Timm entfernt - im Alsterpavillon. Er hatte eine Besprechung mit einem Vertreter jener ägyptischen Firma, die auf den Markennamen „Palmaro“ Anspruch erhob. Die Firma verlangte, daß Lefuets Margarine einen anderen Namen bekäme.

Der Baron zeigte bei diesem Gespräch nicht die Gelassenheit und Überlegenheit, die ihm zur zweiten Natur geworden war, seit er das Lachen besaß. Gewiß, es hing sehr viel davon ab, daß die Markenmargarine sich jetzt unter dem vorbereiteten Namen möglichst schnell Legionen von Käufern eroberte. Aber der Baron durfte keinesfalls merken lassen, wie wichtig ihm die Sache war. Er mußte lächelnde Gelassenheit zeigen. Eben deshalb und für solche Zwecke hatte er ja das Lachen gekauft.

Als Lefuet an einer passenden Stelle das Lachen ertönen ließ, samt dem Kullern und dem Schlucker, wie es sich gehörte, kam es ihm so vor, als fehle etwas daran. Auf seinen Gesprächspartner schien es eher peinlich zu wirken.

Der Baron entschuldigte sich für einen Moment und begab sich in den Waschraum des Alsterpavillons. Hier stellte er sich vor den Spiegel, produzierte das Lachen Timms und beobachtete dabei sein Gesicht genau.

Auf den ersten Blick schien alles unverändert. Aber bei genauerem Hinsehen - der Baron lachte zum zweitenmal für den Spiegel - bei genauerem Hinsehen fehlten die hübschen Kringel in den Mundwinkeln. Das Lachen wirkte daher gezwungen, künstlich: ein Lachen aus zweiter Hand.

In Lefuet stieg ein Gefühl auf, das ihm in den letzten Jahren fremd geworden war: Erschrecken! Und zum erstenmal seit Jahren fühlte er wieder so etwas wie Gewissensbisse. Nicht etwa, weil er etwas Böses getan hatte (für Gut und Böse fehlte ihm das Organ), sondern weil er sah, daß er eine Dummheit gemacht hatte.

Dieses kostbare Gassenjungen-Lachen, blank und gehärtet wie ein Diamant, dieses Kullern mit dem Schlucker dran, hätte er auf andere, einfachere Weise in seinen Besitz bringen müssen: nicht Punkt für Punkt mit einem feilschenden Vertragspapier; nicht aus Geiz mit der Hokus-Pokus-Fähigkeit, Wetten zu gewinnen; sondern...

Der Gesprächspartner Lefuets betrat plötzlich den Waschraum und sah das blaßgewordene, leicht verzerrte Gesicht des Barons. Er mußte annehmen, daß Lefuet wegen des Markennamens „Palmaro“ so verstört war, und Lefuet mußte annehmen, daß der ägyptische Vertreter eben dies annahm. Es war eine verteufelte Lage. Der Baron wagte nicht einmal, das Lachen ins Spiel zu bringen, weil er sich dieses Lachens plötzlich nicht mehr sicher war. Er sagte deshalb, indem er sehr unglaubwürdig eine Übelkeit vortäuschte: „Ich werde morgen alles in Kairo besprechen. Mir ist nicht wohl. Die Hummermayonnaise... “

Dann verließ er den Waschraum und den Alsterpavillon und rannte mit langen Schritten - ein fliegender Heuschreck - zu seinem Hotel. Die Spaziergänger auf dem eleganten Jungfemstieg - dezent gepuderte Damen und gemessen schreitende Herren - bemerkten bei seinem Anblick mit gehobenen Brauen: „So s-türzt man doch nücht über den Jungfems-tieg, wie ungebüldet!“

Lefuet hörte und sah nichts davon. Er spürte, daß ihm das Lachen zu entgleiten drohte, und er ahnte, auf welche Weise. Deshalb wollte er retten, was zu retten war, es festhalten mit Zähnen und Klauen. Deshalb rannte er jetzt über den Neuen Jungfemstieg, sprang beinahe, ohne auf die Menschen und den Verkehr zu achten, stürzte blindlings vorwärts, einem Wahnsinnigen ähnlich, strauchelte mitten auf dem Fahrweg vor dem Hotel, hörte Bremsen quietschen und Leute schreien, fühlte es heiß die Hüften entlangrinnen und schrie, bevor er ohnmächtig wurde: „Timm Thaler!“

Dieser Verkehrsunfall kam ebenso plötzlich wie folgerichtig. Furcht erzeugt Unsicherheit. Unsicherheit verwirrt. Verwirrung erzeugt Unfälle. Es war folgerichtig, daß der Baron vor ein Auto geriet, als er um das Lachen zu fürchten begann. Im übrigen war der Baron körperlich zäher, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mochte. Auch hatte das Auto in letzter Sekunde bremsen können. Lefuet war nicht unter die Räder gekommen. Seine Bewußtlosigkeit war nur eine Folge des Sturzes.

Zwei Detektive, die hinter ihm hergekeucht waren, hoben ihn ins Krankenauto, das schon fünf oder sechs Minuten später an Ort und Stelle war. Die Detektive begleiteten den Baron auch ins Hospital, wo er ziemlich bald aus der Ohnmacht erwachte. Seine ersten Worte waren allen Leuten im Krankenzimmer völlig unverständlich. Er sagte: „Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ Dann kam der Arzt herein, und Lefuet sagte seinen Detektiven mit müder Stimme, er könne sie jetzt entbehren. „In Hospitälern“, fügte er scherzend hinzu, „ist man durch die Pietät am besten geschützt.“ Er lachte dabei ein wenig, und das kleine Gelächter schien ihm gut zu tun.

Die Detektive verließen das Krankenzimmer, und Lefuet wurde eingehend untersucht. Er hatte einige Prellungen davongetragen und eine leichte Gehirnerschütterung. Man verordnete leichte Kost und Bettruhe für einige Tage. Außerdem wurde ihm geraten, möglichst keine Besuche zu empfangen.

Trotzdem erhielt Lefuet noch am selben Tage merkwürdigen Besuch. Es war ein kleiner mickriger Mann mit Nickelbrille. Er hatte ein zerknittertes Gesicht und einen zerknitterten Anzug. Die Stationsschwester wunderte sich, daß ihr Patient, der ein feiner Herr zu sein schien, mit solchen Leuten verkehrte.

Lefuet stellte dem Mann ein paar Fragen und gab einige Anweisungen.

„Haben Sie den Jungen seit der Geschichte auf dem Rennplatz wiedergesehen?“

„Nein, Herr Baron.“

„Leiser, mein Lieber! Ich bin Mister Brown.“

„Jawohl, Herr... Mister Brown. Ich wollte Ihnen noch sagen, daß ich den Jungen von Zeitungsbildem kenne.“

„Das ist wenigstens etwas. Aber sehen Sie ihn sich trotzdem noch einmal an, wenn’s möglich ist. Aber unauffällig.

Möglicherweise erkennt er Sie wieder. Die Nickelbrille verändert Sie kaum.“