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Jetzt mußte er genau überlegen, was er mitnehmen sollte; denn vermutlich würde er ja in dieses Appartement nicht zurückkehren. Er wußte, daß mit seinem wiedergefundenen Lachen die Rolle des reichen Erben ausgespielt war; aber das bedrückte ihn nicht. Was also mitnehmen?

Er entschloß sich, nur ein paar Papiere mitzunehmen, sonst nichts: seinen Paß, den Vertrag über das verkaufte Lachen, den Vertrag über den Kauf der Reederei HHD, den dritten Vertrag über den Erwerb des Marionettentheaters und den winzigen geheimnisvollen Zettel mit der Kritzelschrift. Diese fünf Schriftstücke steckte Timm, säuberlich gefaltet, in eine geräumige Hintertasche der Seemannshose, die er sorgfältig zuknöpfte.

Timm war für die wichtigste Unternehmung seines Lebens gerüstet. (Es war mittlerweile schon fast elf Uhr geworden.) Er tat jetzt noch ein übriges, indem er rasch nacheinander drei Zigaretten rauchte. So roch er nach Tabak und bekam eine leicht heisere Stimme. (Er rauchte nämlich sonst nicht, hatte für Besucher aber stets ein gefülltes Zigarettenkästchen aus Palisanderholz bereitstehen.)

Nun galt es, unbemerkt von den Detektiven das Hotel zu verlassen. (Unter dem Rauchen war es elf Uhr fünfzehn geworden.) Aus einem Fenster zu klettern, wäre zu auffällig. Also blieb nur der Weg durch das Hotel. Zu diesem Zweck mußte der Detektiv auf dem Flur abgelenkt werden. Timm wußte schon, auf welche Weise: Er schrieb einen

kurzen Brief an den Baron, in dem er ihm gute Genesung

wünschte, und läutete dem Boy. (Es war elf Uhr dreißig.)

Der Hotelpage, der erschien, war etwa in Timms Alter, wirkte aber bedeutend jünger. Er war rothaarig und hatte ein verwegenes Stupsnasengesicht, was Timm nur recht sein konnte.

„Würden Sie ein bißchen Theater für mich spielen, wenn ich Ihnen zweihundert Mark gebe?“ (Es war Timms Taschengeld-Rest.)

Der Page grinste: „Um was handelt es sich denn?“

„Vor meiner Tür steht ein Detektiv... “

„Weiß ich“, sagte der Knabe, immer noch grinsend.

„Nun, den sollen Sie ablenken. Nehmen Sie diesen Brief und stecken Sie ihn so in den Ärmelaufschlag Ihrer Jacke, daß ein Streifen herausguckt. Wenn der Detektiv nach dem Brief fragt - und das wird er, wie ich ihn kenne - tun Sie verstört, als ob Sie den Brief nicht zeigen dürften. Gehen Sie im Geschwindschritt um die Flurecke. Der Detektiv wird Ihnen folgen und Ihnen Geld bieten, um den Brief ansehen zu dürfen.“

„Darauf können Sie Gift nehmen, Mister Brown.“

„Eben. Das weiß ich. Nun bitte ich Sie, so lange mit dem Detektiv zu zanken, daß ich mein Appartement verlassen und durch den Hintereingang des Hotels entwischen kann. Den Brief darf er natürlich lesen.“

Die Stupsnase unter dem roten Schopf zuckte belustigt. „Ich muß ihn also vier bis fünf Minuten aufhalten. Das klappt. Dann kann ich auch den Preis ein bißchen höhertreiben, und Sie brauchen mir nur hundert Mark zu geben.“

Timm wollte etwas sagen, aber der Page winkte ab: „Nee, nee, lassen Sie man! Hundert Mark genügen. So, wie Sie sich verpuppt haben, kommen Sie ja bestimmt nicht unter reiche Leute. Ist also ganz gut, wenn Sie Kleingeld bei sich haben.“

„Vielleicht haben Sie recht“, erwiderte Timm. „Also schönen Dank. Hier ist der Brief, hier sind hundert Mark. Und wenn Sie den Detektiv tun die Ecke gelockt haben, könnten Sie vielleicht einen Hustenanfall markieren.“

„Wird prompt erledigt, Mister!“ Der Page steckte das Geld in eine Brusttasche und den Brief in einen Ärmelaufschlag. Dann streckte er - seinen Anweisungen zum Trotz - Timm die Hand hin und sagte: „Viel Glück!“

„Glück kann ich brauchen“, erwiderte Timm ernst und drückte die Hand des Pagen.

Als der Boy gegangen war, legte Timm ein Ohr an die Tür. Sein Herz schien wieder einmal im Halse zu klopfen.

Jetzt hörte er ein bellendes Husten. (Es war elf Uhr fünfundvierzig.) Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Flur war leer.

Als er die Tür leise wieder ins Schloß gedrückt hatte, nahm er sich nicht die Zeit, abzuschließen. Mit wenigen Schritten war er an der Treppe, die zum Hinterausgang des Hotels führte. („Benutze Hintertreppen.“ Er tat es.)

Ungehindert konnte er entwischen. Ein Zimmermädchen, dem er einen gemurmelten „guten Abend“ wünschte, schien ihn nicht erkannt zu haben.

Draußen glänzte das Straßenpflaster unter den Bogenlampen. Es hatte über Hamburg zu nieseln angefangen. Ein Mann stand mit einem Regenschirm auf der anderen Straßenseite, hatte aber den Kopf abgewandt. Im Latemenschein blitzte der Bügel einer Nickelbrille auf. Jetzt nur nicht rennen! Schlendern, pfeifen und den Seemann spielen! Timm blickte sich um, als wisse er noch nicht, wohin er sich wenden wolle, pfiff und wandte sich dann in Richtung des Rathauses. Keine Schritte folgten ihm. Umzudrehen wagte er sich nicht. Betont gemütlich, aber innerlich fast berstend vor Aufregung, setzte er Schritt vor Schritt, bog in eine Gasse ein und -fing zu rennen an.

Erst kurz vor dem Rathausmarkt - eine Turmuhr begann gerade zu schlagen - hielt er an. Er sah auf dem Platz eine Reihe Taxis stehen; aber nur eines stand mit laufendem Motor da. Als der verkleidete Junge langsam auf dieses Auto zuging, erkannte er Jonny - ebenfalls verkleidet.

Die Turmuhr hatte ausgeschlagen. Es war Mitternacht, „die schwarze Stunde der Straßenbahnen“. Timm öffnete den Schlag und setzte sich neben den Steuermann.

Jonny sagte: „Entschuldigen Sie, ich bin bestellt. Nehmen Sie das nächste Taxi!“ Dabei sah er seinen Fahrgast nicht an, sondern ließ seine Augen suchend über den Markt wandern.

„Besuche Schwan-Kleb-An. Gewinne, was die Prinzessin gewann“, erwiderte Timm halblaut.

Jetzt fuhr Jonnys Kopf zur Seite: „Menschenskind, Timm, wie siehst du denn aus?“

„Mein Zimmermädchen hat einen Verehrer bei der christlichen Seefahrt, Jonny!“

„Ist jemand hinter dir her?“

„Ich glaube nicht.“

Das Auto fuhr zwischen einzelnen erleuchteten Schaufenstern zum Rödingsmarkt hinauf, bog dort scharf rechts ein und nahm Richtung auf das Hafenviertel.

„Ist dir jemand auf den Fersen, Jonny?“

„Könnte sein, Timm. Seit einer Stunde hab’ ich so ein Gefühl, als würde ich beschattet. Aber es ist nur so ein Gefühl, verstehst du? Einen bestimmten Wagen oder eine bestimmte Person, die mich verfolgen, konnte ich bis jetzt nicht ausmachen. Wir werden Seitenstraßen benutzen.“

Neben dem Steuermann ließ Timms Erregung etwas nach. Er hatte sich diese Taxifahrt um Mitternacht viel dramatischer vorgestellt. Obwohl sie jetzt ständig durch geheimnisvolle dunkle Nebenstraßen fuhren, waren dies die ruhigsten Augenblicke eines Tages voller Hintertreppen.

Jonny fuhr schnell, aber sicher. Manchmal warf er einen Blick in den Rückspiegel. Aber niemand schien ihnen zu folgen.

Das Auto, das ihnen bald darauf ständig folgte, fuhr ohne Licht.

Mehrere Male setzte Timm zu Fragen über Kreschimir an; aber Jonny fuhr ihm dazwischen: „Wart’s ab, bis du ihn siehst, Timm! Ich bitte dich darum.“

„Darf ich dich etwas fragen, was nichts mit Kreschimir zu tun hat, Jonny?“

„Was willst du wissen?“ (Sie fuhren jetzt bereits durch Altona.)

„Woher wußtest du, daß der Baron und ich mit dem Flugzeug kamen?“

Der Steuermann lachte. „Erinnerst du dich an einen Herrn namens Selek Bei?“

„Na und ob!“

„Der hat Verbindung mit uns aufgenommen und es uns mitgeteilt. Als euer Flugzeug kam, haben wir alle Taxis am Flugplatz wegengagiert. Ihr hättet gar kein anderes Taxi nehmen können als dieses. Gehört meinem Schwager.“