„Aber woher wußtet ihr denn, daß wir ein Taxi nehmen? Wir fahren normalerweise mit den Wagen der Firma.“
„Selek Bei wußte, daß ihr inkognito kommt, Timm. Nicht einmal die Firma sollte etwas von eurer Ankunft wissen. Die Idee, dem Baron deine Stiefmutter auf den Hals zu hetzen, kam auch von Selek Bei. Hat es was genützt?“
„Nein, Jonny. Nichts hat genützt. Und wenn Kreschimir auch nicht helfen kann, dann... “
„... dann will ich einen Besen fressen, Timm. Samt Stiel und Borsten. Aber red nicht mehr davon. Wart’s ab!“ (Sie waren jetzt nicht mehr weit von der Elbchaussee entfernt und Ovelgönne nahe.)
Plötzlich lachte Jonny unvermittelt.
„Was hast du denn?“
„Ich muß an dein Geschäft mit dem Baron denken. Als du deine Aktien gegen eine Reederei getauscht hast. Hab’ natürlich sofort geschaltet und eine Reederei genannt, von der ich genau wußte, daß sie zu verkaufen ist. Hast du sie tatsächlich bekommen?“
„Ich hab’ den Kaufvertrag in der Tasche, Steuermann.“
„Alle Achtung, Timm! Der HHD ist ein Bombengeschäft! Wenn du einen Steuermann brauchst... “
Jetzt fuhren sie in die Elbchaussee ein, und Jonny sah im Rückspiegel das Auto ohne Licht, das ihnen folgte.
Er sagte dem Jungen nichts, erhöhte nur die Geschwindigkeit und schielte immer wieder in den Rückspiegel.
Timm sagte etwas, aber Jonny hörte nicht hin. Er sah, daß auch das Auto hinter ihnen die Geschwindigkeit erhöhte und langsam näher kam.
Die Bremsen quietschten wie Schweine unter dem Schlachtmesser. Jonnys Rechte bewahrte Timm davor, mit dem Kopf in die Windschutzscheibe zu stoßen. Das Taxi hatte hart gebremst. Das verdunkelte Auto schoß an ihnen vorbei. „Raus!“ brüllte Jonny. Schon hörte man weiter vom das Aufschreien anderer Bremsen.
Der Steuermann zerrte Timm hinter sich her. Über die Straße, eine steile, enge Stiege hinunter, in ein Gebüsch zur Rechten, über eine Mauer, in einen Bierkeller, auf der anderen Seite des Bierkellers wieder hinaus, abermals über eine Mauer und eine zweite, noch steilere Stiege hinunter.
„Was ist denn, Jonny? Hat uns doch jemand verfolgt?“
„Spare deinen Atem, Timm. Durch unser Manöver haben wir einen Vorsprung, den wir halten müssen. Unten steht Kreschimir.“
Timm strauchelte; Jonny fing ihn auf und trug ihn ganz einfach die letzten Stufen hinab. Timms Blick streifte ein beleuchtetes Schild: „Teufelsstiege“.
Als Jonny den Jungen absetzte, pfiff er. Irgendwo in der Nähe pfiff es wieder.
„Tu sofort, was Kreschimir sagt“, flüsterte Jonny.
Aus dem Dunkel tauchten zwei Gestalten auf: Kreschimir und Herr Rickert. Der Kloß in Timms Kehle war diesmal mindestens apfelgroß.
„Gib mir die Hand, Timm, und wette mit mir, daß du dein Lachen wiederbekommst. Mach schnell!“ Es war die vertraute Summe Kreschimirs.
Trotz seiner Verwirrung gab Timm ihm die Hand. „Ich wette mit dir... “
„Halt!“ schrie es hoch oben von der Treppe. „Halt!“ Aber niemand war zu sehen.
Kreschimir sagte ruhig und fest: „Ich wette, daß du dein Lachen nicht zurückbekommst, Timm. Um einen Pfennig!“
„Dann wette ich... “
„Halt!“ schrie es. Jonny flüsterte: „Weitermachen!“
„Dann wette ich mit dir, daß ich mein Lachen zurück«bekomme, Kreschimir. Um einen Pfennig.“
Jonny schlug die Hände durch, wie es üblich war. Dann wurde es unheimlich still.
Timm hatte gewettet, wie man es von ihm verlangt hatte; aber er begriff nicht, was eigentlich geschehen war. Ratlos und stumm stand er da. Drei vertraute Gesichter, von der entfernten Laterne halb beleuchtet, hatten sich ihm zugewandt. Sein eigenes Gesicht war dem Licht abgekehrt. Nur ein Stück seiner Stirn glänzte weiß im Dunkel.
Herrn Rickerts Blick hing wie gebannt an dieser bleichen Stirn. So hatte er Timm schon einmal gesehen, in genau der gleichen Beleuchtung. In einem Gasthaus, das nur wenige Schritte von ihnen entfernt war: beim Marionettenspiel. Und man erkennt den Menschen stets daran, daß er zur rechten Stunde lachen kann. War dies, so fragte sich Herr Rickert bang, die rechte Stunde?
Auch die Blicke Kreschimirs und Jonnys hingen an dieser beleuchteten Stirn, dem einzigen, was man von Timm in der Finsternis sah.
Der Junge im Dunkel sah zu Boden. Dennoch fühlte er die fragenden Blicke. Ihm war elend zumute, obwohl er etwas aus dem Bauch heraufsteigen fühlte, etwas Leises, Leichtes, Vogelhaftes, eine Art Lerchentriller, der ins Freie drängte. Aber Timm war noch zu schwer dafür; es machte ihn hilflos. Er ließ sich das Kullern mit dem Schlucker am Schluß geschehen, wie man sich einen Schluckauf geschehen lassen muß. Er ergriff nicht Besitz von seinem alten Lachen: Das Lachen ergriff von ihm Besitz. Jetzt, da der langersehnte, der durch Jahre erwartete Augenblick da war - jetzt war Timm ihm nicht gewachsen. Er lachte nicht: Ihm geschah das Lachen. Er war seinem Glück ausgeliefert. Und wenn er damals im Marionettentheater bemerkt hatte, wie ähnlich sidi die Gebärden des Lachens und des Weinens sind, so erfuhr er jetzt, daß Lachen und Weinen auch im Wesen manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind. Timm lachte und weinte in einem. Er ließ sich durchschütteln; er ließ die Tränen rinnen und die Wangen feucht werden; er ließ die Arme willenlos herunterhängen und seine Freunde Freunde sein. Ihm war, als durchlitte er seine zweite Geburt.
Und dann geschah etwas Seltsames: Timm sah durch einen Schleier von Tränen drei helle Gesichter auf sich zukommen, und plötzlich vertauschten sich Gegenwart und Vergangenheit. Er war ein kleiner Junge vor dem Schalter eines Pferderennplatzes, und er hatte Geld gewonnen, viel Geld. Er weinte vor Glück über den Gewinn und vor Trauer über den Vater, der dieses Glück nicht miterlebte. Und dann hörte er eine kehlige knarrende Männerstimme sagen: „He, Kleiner, wenn man so viel Glück hat wie du, dann weint man doch nicht.“
Timm sah auf. Aus irgendeiner Ecke seines Gedächtnisses mußte jetzt ein Mann mit einem zerknitterten Gesicht und einem zerknitterten Anzug hervortreten. Aber das Bild dieses Mannes verschwamm. An seine Stelle trat eine andere Gestalt, eine große und leibhaftige: Jonny. Und mit dem Steuermann war plötzlich die Gegenwart wieder da, die Nacht vor dem Gasthaus in övelgönne, das Licht an der Treppe, die hinauf in die Finsternis führte, und drei alte Freunde, deren Mienen unentschieden zwischen Lachen und Weinen zuckten.
Timm Thaler war von seinem wiedergekehrten Lachen überwältigt worden wie von einem Sturm. Jetzt aber war Windstille. Timm hatte wieder Gewalt über sein Lachen. Er wischte sich mit den Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und fragte ruhig: „Wissen Sie noch, was ich Ihnen versprochen habe, als ich aus Hamburg abfuhr, Herr Rickert?“
„Nein, Timm.“
„Ich sagte damals: Wenn ich wiederkomme, werde ich lachen. Und ich kann’s, Herr Rickert! Ich kann es, Kreschimir! Jonny, ich kann lachen. Nur... “ (ein Kullern und Glucksen hinderte ihn einen Augenblick am Weiterreden) „... nur begreife ich nicht, wie das zuging.“
Timms Freunde, die beinahe gefürchtet hatten, der Junge habe vor Glück den Verstand verloren, waren froh, wieder vernünftig mit ihm reden zu können.
„Du hättest längst wieder lachen können“, erklärte Kreschimir.
„Das verstehe ich nicht.“
„Wie lautet denn die Wette, die du mit mir abgeschlossen hast, Timm?“
„Ich habe mit dir gewettet, daß ich mein Lachen wiederbekomm e.“
„Stimmt. Was wäre nun geschehen, wenn du die Wette gewonnen hättest?“
„Dann hätte ich mein Lachen wiederbekommen. Und das habe ich!“