Выбрать главу

Natürlich war sie losgerannt, als sie ihn hatte schreien hören. Um ihre gedruckten Kinder zu retten! »Nein!«, hatte Orpheus geschrien, so laut, dass man es bis in die Küche hörte. »Nein, nein, nein! Lass mich endlich hinein, du dreimal verfluchtes Ding! Ich war es, der Staubfinger zurückgeschickt hat! Begreif das doch endlich! Was wärst du denn ohne ihn? Ich hab dir Mortola zurückgegeben und Basta! Dafür habe ich mir doch wohl eine Belohnung verdient, oder?«

Der Schrankmann stand nicht vor der Bibliothekstür, um Elinor aufzuhalten. Vermutlich strich er gerade wieder durchs Haus, um zu sehen, ob er nicht doch etwas zum Stehlen fand (dass die Bücher das mit Abstand Wertvollste in diesem Haus waren, darauf wäre er in hundert Jahren nicht gekommen). Elinor wusste später nicht mehr, mit welchen Schimpfwörtern sie Orpheus bedacht hatte. Nur an das Buch erinnerte sie sich, das er in der erhobenen Hand gehalten hatte, eine wunderschöne Ausgabe von William Blakes Gedichten. Und er warf es trotz ihrer wüsten Beschimpfungen aus dem Fenster, während der Schrankmann sie von hinten packte und zur Kellertreppe zerrte.

O Meggie!, dachte Elinor, während sie auf ihrer Luftmatratze lag und den bröckelnden Putz an ihrer Kellerdecke anstarrte. Warum hast du mich nicht mitgenommen? Warum hast du mich nicht wenigstens gefragt?

Der Schleierkauz

Und das soll ein jeglicher Arzt wissen, daß Gott ein groß arcanum in das Kraut gelegt hat, allein wegen der Geister und wirren Phantasien, die den Menschen in Verzweiflung bringen, und diese Hilfe geschieht nicht durch den Teufel, sondern von Natur aus.

Paracelsus, Medizinische Schriften

Das Meer. Meggie hatte es nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem sie von Capricorns Dorf zu Elinor gefahren waren, zusammen mit Feen und Kobolden, die nun Asche waren. »Hier lebt der Bader, von dem ich erzählt habe«, sagte Staubfinger, als die Bucht hinter den Bäumen auftauchte. Sie war so schön. Die Sonne ließ das Wasser schimmern wie grünes Glas, schäumendes Glas, das der Wind in immer neue Falten legte. Es war ein kräftiger Wind, er trieb Wolkenschleier über den blauen Himmel und roch nach Salz und fernen Inseln. Er hätte das Herz leicht gemacht, wäre da nicht in der Ferne der kahle Hügel gewesen, der sich über den bewaldeten Kuppen erhob, und auf ihm die Burg, grobschlächtig wie das Gesicht ihres Herrn, trotz der versilberten Dächer und Zinnen.

»Ja, das ist sie«, sagte Staubfinger, als er Meggies erschrockenen Blick bemerkte. »Die Nachtburg. Und den Hügel, auf dem sie steht, nennt man den Natternberg, wie sonst? Kahl wie der Kopf eines alten Mannes, damit niemand sich im Schutz der Bäume nähern kann. Aber keine Sorge, sie ist nicht ganz so nah, wie es erscheint.«

»Die Türme«, sagte Farid, »ist das wirklich alles echtes Silber?«

»O ja«, antwortete Staubfinger. »Aus dem Berg gegraben, aus diesem und aus anderen. Gebratene Vögel, junge Frauen, fruchtbares Land, und Silber - der Natternkopf hat auf vieles Appetit.«

Ein weiter sandiger Strand säumte die Bucht. Dort, wo er zu den Bäumen anstieg, erhoben sich eine lang gestreckte Mauer und ein Turm. Kein Mensch war am Strand zu entdecken, kein Boot lag auf dem blassen Sand, nur diese Gebäude - der flache Turm, lang gestreckte Ziegeldächer, kaum zu sehen hinter der Mauer. Ein Weg wand sich darauf zu, wie die Kriechspur einer Viper, aber Staubfinger führte sie im Schutz der Bäume zur Rückseite der Gebäude. Ungeduldig winkte er ihnen zu, bevor er im Schatten der Mauer verschwand. Das Holz der Pforte, vor der er auf sie wartete, war verwittert und die Glocke, die darüber hing, rostig vom Salzwind. Wilde Blumen wuchsen neben der Tür, verwelkte Blüten und braune Samenstände, an denen eine Fee naschte. Ihre Haut war heller als die ihrer Schwestern im Wald.

Alles schien so friedlich. Das Summen einer Wespe drang an Meggies Ohr und mischte sich in das Rauschen des Meeres, aber sie erinnerte sich zu gut daran, wie friedlich ihr die Mühle erschienen war. Staubfinger hatte es auch nicht vergessen. Lauschend stand er da, bevor er schließlich die Hand ausstreckte und an der Kette der rostigen Glocke zog. Sein Bein blutete wieder, Meggie sah, wie er die Hand darauf presste, aber auf dem Weg hierher hatte er sie trotzdem immer wieder zur Eile angetrieben. »Es gibt keinen besseren Bader«, hatte er nur gesagt, als Farid ihn gefragt hatte, wohin er sie führte, »und keinen, dem wir mehr trauen können. Außerdem ist es von dort nicht mehr weit zur Nachtburg, und da will Meggie doch wohl immer noch hin, oder?« Blätter hatte er ihnen zu essen gegeben, pelzig und bitter. »Runter damit!«, hatte er gesagt, als sie angeekelt die Gesichter verzogen hatten. »Dort, wo wir hingehen, könnt ihr nur bleiben, wenn ihr mindestens fünf davon im Magen habt.«

Die Holztür öffnete sich einen Spalt und eine Frau lugte hindurch. »Bei allen guten Geistern!«, hörte Meggie sie flüstern, dann öffnete die Pforte sich und eine Hand, schmal und runzlig, winkte sie herein.

Die Frau, die hastig wieder hinter ihnen zusperrte, war ebenso runzlig und dünn wie ihre Hand, und sie starrte Staubfinger an, als wäre er geradewegs vom Himmel gefallen. »Gestern! Gestern noch hat er es gesagt!«, stieß sie hervor. »>Du wirst sehen, Bella, er ist zurück, wer sonst soll die Mühle angesteckt haben? Wer sonst spricht mit dem Feuer?< Die ganze Nacht hat er kein Auge zugetan. Er hat sich Sorgen gemacht, aber es geht dir gut, oder? Was ist mit deinem Bein?«

Staubfinger legte den Finger an den Mund, doch Meggie sah, dass er lächelte. »Dem könnte es besser gehen«, sagte er leise. »Und du redest immer noch genauso schnell wie früher, Bella, aber könntest du uns jetzt zum Schleierkauz bringen?«

»Ja. Ja, natürlich!« Bella klang etwas gekränkt. »Vermutlich hast du den abscheulichen Marder dadrin?«, fragte sie mit einem misstrauischen Blick auf Staubfingers Rucksack. »Wehe, du lässt ihn heraus.«

»Natürlich nicht«, versicherte Staubfinger und warf Farid einen Blick zu, der ihm ganz offensichtlich riet, nichts von dem zweiten Marder zu sagen, der in seinem Rucksack schlief.

Die alte Frau winkte sie ohne ein weiteres Wort hinter sich her, einen dunklen, schmucklosen Säulengang hinunter. Sie ging mit kleinen hastigen Schritten, als wäre sie ein Eichhörnchen in einem langen, grob gewebten Kleid. »Es ist gut, dass du hintenherum gekommen bist«, sagte sie mit gesenkter Stimme, während sie ihre Gäste an einer Reihe verschlossener Türen vorbeiführte. »Ich fürchte, der Natternkopf hat selbst hier inzwischen seine Ohren, aber zum Glück bezahlt er seine Spitzel nicht so gut, dass sie in dem Flügel arbeiten wollen, in dem wir die Ansteckenden behandeln. Du hast den beiden doch hoffentlich genug von den Blättern gegeben?«

»Sicher!« Staubfinger nickte, aber Meggie sah, dass er sich unbehaglich umsah und unauffällig noch eins von den Blättern in den Mund schob, die er auch ihnen gegeben hatte. Nicht erst, als sie an den gebrechlichen Gestalten vorbeikamen, die auf dem Hof, um den der Säulengang herumführte, in der Sonne saßen, begriff Meggie, wohin Staubfinger sie gebracht hatte. Es war ein Siechenhaus. Farid presste sich erschrocken die Hand vor den Mund, als ihnen ein alter Mann entgegenkam, der so bleich war, als hätte der Tod ihn längst geholt, und sein zahnloses Lächeln erwiderte er nur mit einem entsetzten Nicken.

»Nun schau nicht so, als würdest du gleich tot umfallen!«, raunte Staubfinger ihm zu, obwohl auch er dreinblickte, als würde er sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut fühlen. »Deine Finger werden hier bestens versorgt und außerdem sind wir hier verhältnismäßig sicher, was man nicht von vielen Orten auf dieser Seite des Waldes sagen kann.«

»Ja, denn wenn der Natternkopf etwas fürchtet«, fügte Bella mit wissender Stimme hinzu, »dann sind es der Tod und all die Krankheiten, die zu ihm führen. Trotzdem solltet ihr euch so wenig wie möglich sehen lassen, weder bei den Kranken noch den Pflegern.