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»Ich weiß.« Staubfinger griff nach einem der Bücher, die auf dem Tisch des Baders lagen. Es war ein Kräuterbuch. Meggie konnte sich vorstellen, wie Elinor es gemustert hätte -voller Begierde, es zu besitzen, und Mo wäre mit dem Finger über die gemalten Blätter gefahren, als könnte er auf die Art den Pinsel fühlen, der sie so fein auf das Papier gebannt hatte. Woran aber dachte Staubfinger? An die Kräuter auf Roxanes Feldern? »Glaub mir, ich wäre nicht hergekommen, wenn das bei der Mühle nicht passiert wäre«, sagte er. »Dies ist kein Ort, an den man die Gefahr bringen will, und wir werden noch

heute wieder verschwinden.«

Aber davon wollte der Schleierkauz nichts hören. »Ach was, ihr bleibt, bis dein Bein und die Finger des Jungen verheilt sind«, sagte er. »Du weißt genau, dass ich sehr froh bin, dass du gekommen bist. Und ich freue mich, dass der Junge bei dir ist. Er hat noch nie einen Schüler gehabt, weißt du?«, sagte er zu Farid. »Ich habe ihm immer gesagt, dass man seine Kunst weitergeben muss, aber er wollte nichts davon hören. Ich gebe meine an viele weiter, und deshalb muss ich euch jetzt auch verlassen. Ich muss einem Schüler zeigen, wie man einen Fuß abschneidet, ohne den Mann, der daran hängt, zu töten.«

Farid starrte ihn mit entgeistertem Gesicht an. »Abschneiden?«, flüsterte er. »Wieso abschneiden?« Aber der Schleierkauz hatte die Tür schon hinter sich zugezogen.

»Hab ich dir das nicht erzählt?«, sagte Staubfinger, während er sich über den verletzten Schenkel strich. »Der Schleierkauz ist ein erstklassiger Knochensäger. Aber ich denke, unsere Finger und Füße können wir behalten.«

Nachdem Bella Farids Brandblasen und Staubfingers Bein versorgt hatte, brachte sie alle drei in einer abgelegenen Kammer unter, gleich bei der Pforte, durch die sie gekommen waren. Meggie gefiel die Aussicht, wieder unter einem Dach zu schlafen, aber Farid behagte der Gedanke gar nicht. Mit unglücklichem Gesicht hockte er auf dem mit Lavendel bestreuten Boden und kaute hektisch eins der bitteren Blätter. »Können wir heute Nacht nicht am Strand schlafen? Der Sand ist bestimmt schön weich«, fragte er Staubfinger, als der sich auf einem der Strohsäcke ausstreckte. »Oder im Wald?«

»Ja, meinetwegen«, antwortete Staubfinger. »Aber jetzt lass mich schlafen. Und hör auf, dreinzublicken, als hätte ich dich zu Menschenfressern gebracht, sonst zeig ich dir morgen Nacht doch nicht, was ich dir versprochen habe.«

»Morgen?« Farid spuckte das Blatt in die Hand. »Wieso erst morgen?«

»Weil es zu windig ist«, sagte Staubfinger und kehrte ihm den Rücken zu, »und weil das verdammte Bein schmerzt. Brauchst du noch mehr Begründungen?«

Farid schüttelte zerknirscht den Kopf, schob sich das Blatt wieder in den Mund und starrte zur Tür, als würde im nächsten Moment der Tod höchstpersönlich hereinspazieren.

Meggie aber saß da, in der kahlen Kammer, und wiederholte sich immer wieder, was der Schleierkauz über Mo gesagt hatte: Es geht ihm recht gut, viel besser jedenfalls, als wir den Natternkopf glauben lassen... Also musst du dir im Moment wirklich keine Sorgen machen.

Als es draußen dämmerte, hinkte Staubfinger nach draußen. Er lehnte sich an eine Säule und sah zu dem Hügel hinüber, auf dem die Nachtburg stand. Reglos blickte er auf die silbernen Türme - und Meggie fragte sich bestimmt zum hundertsten Mal, ob er ihr nur ihrer Mutter wegen half. Vielleicht wusste Staubfinger die Antwort selbst nicht.

Im Kerker der Nachtburg

Auf meine Stirne tritt kaltes Metall, Spinnen suchen mein Herz.

Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.

Georg Trakt, De profundis

Mina weinte schon wieder. Resa nahm sie in den Arm, als wäre die schwangere Frau selbst noch ein Kind, summte ein Lied und wiegte sie, wie sie es bei Meggie manchmal tat, obwohl die inzwischen schon fast so groß war wie Resa selbst.

Zweimal am Tag kam ein Mädchen, ein mageres, ver-huschtes Ding, jünger als Meggie, und brachte ihnen Brot und Wasser. Manchmal gab es auch Getreidebrei, klebrig und kalt, aber er machte satt - und erinnerte Resa an die Zeiten, in denen Mortola sie eingesperrt hatte, für irgendetwas, das sie getan oder nicht getan hatte. Der Brei hatte genauso geschmeckt.

Als sie das Mädchen nach dem Eichelhäher fragte, zog es nur erschrocken den Kopf ein und ließ Resa zurück mit der Angst - mit der Angst, dass Mo längst tot war, dass sie ihn aufgehängt hatten dort oben an dem riesigen Galgen und er als Letztes in dieser Welt nicht ihr Gesicht, sondern die silbernen Natternköpfe gesehen hatte, die von den Mauern herabzüngelten. Manchmal sah sie es so deutlich vor sich, dass sie die Hände vor die Augen presste, aber die Bilder blieben.

Und die Dunkelheit, die sie umgab, gaukelte ihr vor, dass alles andere nur ein Traum gewesen war: der Augenblick auf Capricorns Festplatz, in dem sie Mo plötzlich neben Meggie hatte stehen sehen, das Jahr in Elinors Haus, all das Glück.

nur ein Traum.

Wenigstens war sie nicht allein. Auch wenn die Blicke der anderen oft feindselig waren, so rissen ihre Stimmen sie doch wenigstens für kurze Zeit aus ihren finsteren Gedanken.

Ab und zu erzählte einer eine Geschichte, damit sie das Weinen aus den anderen Zellen nicht hörten, das Rascheln der Ratten, die Schreie, das Gestammel, das schon lange keinen Sinn mehr ergab. Meist waren es die Frauen. Sie erzählten von Liebe und Tod, von Verrat und Freundschaft, aber alle Geschichten endeten gut, Lichter in der Dunkelheit, wie die Kerzen in Resas Tasche, deren Dochte feucht geworden waren.

Resa erzählte Märchen, die Mo ihr vorgelesen hatte, vor langer, langer Zeit, als Meggies Finger noch weich und winzig gewesen waren und die Buchstaben ihnen noch keine Angst gemacht hatten.

Die Spielleute aber erzählten von der Welt, die sie umgab: von Cosimo dem Schönen und seinem Kampf gegen die Brandstifter und vom Schwarzen Prinzen - wie er seinen Bären gefunden hatte und seinen Freund, den Feuertänzer, der Funken regnen und Feuerblumen blühen ließ in schwärzester Nacht.

Benedicta sang ein Lied über den Feuertänzer, mit leiser Stimme, ein wunderschönes Lied, in das sogar der Zweifinger schließlich einfiel, bis der Wärter mit dem Stock gegen die Gitter schlug und ihnen befahl, still zu sein.

»Ich habe ihn einmal gesehen!«, flüsterte Benedicta, als der Wärter wieder fort war. »Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen war. Es war wunderbar. Das Feuer leuchtete so sehr, dass selbst meine Augen es sehen konnten. Sie sagen, er ist tot.«

»Ist er nicht«, sagte Resa leise. »Oder wer, glaubt ihr, hat den Baum auf der Straße brennen lassen?« Wie ungläubig sie alle ansahen! Aber sie war zu müde, mehr zu erzählen. Sie war zu müde, um irgendetwas zu erklären. Lasst mich zu meinem Mann, das war alles, was sie sagen wollte. Lasst mich zu meinem Kind. Erzählt mir keine Geschichten mehr, erzählt mir,

wie es ihnen geht. Bitte.

Jemand erzählte ihr schließlich von Meggie und Mo, doch aus jedem anderen Mund hätte Resa es lieber gehört. Die anderen schliefen, als Mortola kam. Sie hatte zwei Soldaten dabei. Resa war wach, weil sie wieder die Bilder sah, Bilder von Mo, wie sie ihn auf den Hof brachten, ihm den Strick um den Hals legten. Er ist tot, und sie ist gekommen, um es mir zu sagen! Das war ihr erster Gedanke, als die Elster mit triumphierendem Lächeln vor ihr stehen blieb.

»Sieh an, die treulose Magd!«, sagte Mortola, während Resa mühsam auf die Füße kam. »Du scheinst eine ebensolche Hexe zu sein wie deine Tochter. Wie hast du ihn nur am Leben erhalten? Nun gut, vielleicht war ich etwas zu hastig beim Zielen. Was soll’s. Ein paar Wochen noch, und er wird kräftig genug für seine Hinrichtung sein!«