Mortola thronte in Elinors Lieblingssessel. Kaum einen Schritt entfernt von ihr lag ein Hund mit triefenden Augen und einem Kopf, der breit genug war, einen Teller darauf abzustellen. Seine Vorderbeine waren bandagiert wie Mortolas Beine, auch um seinen Bauch schlang sich ein Verband. Ein Hund! In ihrer Bibliothek! Elinor presste die Lippen aufeinander. Vermutlich ist das im Moment deine geringste Sorge, Elinor!, sagte sie sich. Also übersieh ihn am besten einfach.
Mortolas Stock lehnte an einer der Glasvitrinen, in denen sie ihre wertvollsten Bücher aufbewahrte. Das Mondgesicht stand neben der Alten. Orpheus - was bildete der Dummkopf sich ein, einen solchen Namen für sich zu beanspruchen, oder hatten seine Eltern ihn allen Ernstes so genannt? Auf jeden Fall sah er aus, als hätte er eine ebenso schlaflose Nacht verbracht wie sie, was Elinor mit grimmiger Befriedigung erfüllte.
»Mein Sohn hat immer behauptet, die Rache sei ein Gericht, das kalt genossen am besten schmeckt«, stellte Mortola fest, während sie mit zufriedener Miene die erschöpften Gesichter ihrer Gefangenen musterte. »Ich gebe zu, gestern war ich nicht in der Stimmung, diesem Rat zu folgen. Ich hätte euch gern auf der Stelle tot gesehen, aber das Verschwinden der kleinen Hexe hat mir Zeit verschafft nachzudenken, und so bin ich zu dem Entschluss gelangt, meine Rache noch etwas aufzuschieben, um sie dann umso besser und kälter genießen zu können.«
»Hört, hört!«, murmelte Elinor, was ihr einen Stoß mit Bastas Flintenlauf eintrug. Mortola aber richtete ihren Vogelblick auf Mortimer. Niemanden sonst schien sie zu sehen, nicht Resa, nicht Darius, nicht Elinor, nur ihn.
»Zauberzunge!« Sie sprach den Namen voll Verachtung aus. »Wie viele hast du getötet mit deiner Samtstimme? Ein Dutzend? Cockerell, Flachnase und schließlich, als Krönung deiner Kunst, meinen Sohn.« Die Bitterkeit in Mortolas Stimme war so frisch, als wäre Capricorn nicht vor mehr als einem Jahr, sondern in der letzten Nacht gestorben. »Du wirst sterben dafür, dass du ihn getötet hast. Du wirst sterben, so wahr ich hier sitze, und ich werde zusehen, so wie ich zusehen musste beim Tod meines Sohnes. Da ich jedoch aus eigener Erfahrung weiß, dass nichts, weder in dieser noch in einer anderen Welt, mehr schmerzt als der Tod des eigenen Kindes, will ich, dass du den Tod deiner Tochter mit ansiehst, bevor du selber stirbst.«
Mortimer stand da und verzog keine Miene. Gewöhnlich stand ihm jedes Gefühl auf die Stirn geschrieben, aber selbst Elinor hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, was in seinem Inneren vorging.
»Sie ist fort, Mortola«, sagte er nur heiser. »Meggie ist fort, und ich denke, du kannst sie nicht zurückholen, sonst hättest du es längst getan, oder?«
»Wer redet denn von Zurückholen?« Mortolas schmallip-piger Mund verzog sich zu einem freudlosen Lächeln. »Glaubst du, ich habe vor, noch länger in deiner albernen Welt zu bleiben, jetzt, wo ich das Buch habe? Wozu? Nein, wir werden deiner Tochter in meine Welt folgen. Basta wird sie dort einfangen wie ein Vögelchen. Und dann mache ich euch zwei meinem Sohn zum Geschenk. Es wird wieder ein Fest geben, Zauberzunge, aber diesmal wird nicht Capricorn sterben. O nein. Er wird an meiner Seite sitzen und meine Hand halten, während der Tod erst deine Tochter und dann dich holt. Ja, so wird es sein!«
Elinor sah zu Darius hinüber und entdeckte auf seinem Gesicht dasselbe ungläubige Erstaunen, das sie auch verspürte.
Mortola aber lächelte überlegen. »Was starrt ihr mich so an? Ihr denkt, Capricorn ist tot?« Mortolas Stimme überschlug sich fast. »Blödsinn. Ja, hier ist er gestorben, aber was heißt das schon? Diese Welt ist ein Witz, ein Mummenschanz, wie die Spielleute ihn auf den Märkten aufführen. In unserer, der echten Welt lebt Capricorn noch. Nur deshalb habe ich mir das Buch von dem Feuerfresser zurückgeholt. Die kleine Hexe hat es selbst gesagt, damals, in jener Nacht, in der ihr ihn umbrachtet: Er wird immer da sein, solange es das Buch gibt. Ich weiß, sie sprach von dem Feuerfresser, aber was für ihn gilt, gilt erst recht für meinen Sohn! Sie sind alle noch dort, Capricorn und Flachnase, Cockerell und der Schatten!«
Triumphierend blickte sie von einem zum anderen, aber alle schwiegen. Bis auf Mortimer. »Das ist Unsinn, Mortola!«, sagte er. »Und niemand weiß das besser als du. Du warst doch selbst in der Tintenwelt, als Capricorn von dort verschwand, zusammen mit Basta und Staubfinger.«
»Er war verreist, na und?« Mortolas Stimme wurde schrill. »Und dann kam er nicht wieder, aber das heißt gar nichts. Mein Sohn musste ständig reisen wegen seiner Geschäfte. Der Natternkopf schickte seine Boten manchmal mitten in der Nacht, wenn er seine Dienste benötigte, und dann war er am nächsten Morgen fort. Aber jetzt ist er zurück. Und er wartet darauf, dass ich ihm seinen Mörder bringe, in seine Festung im Weglosen Wald.«
Elinor verspürte den irrwitzigen Drang zu lachen, doch die Angst drückte ihr die Kehle zu. Kein Zweifel!, dachte sie. Die alte Elster ist verrückt geworden! Leider machte sie das nicht weniger gefährlich.
»Orpheus!« Mortola winkte das Mondgesicht ungeduldig an ihre Seite.
Betont langsam, als wollte er beweisen, dass er ihren Anweisungen keineswegs so willig folgte wie Basta, schlenderte er zu ihr und zog im Gehen ein Blatt Papier aus der Innentasche seiner Jacke. Mit wichtiger Miene faltete er es auseinander und legte es auf die Glasvitrine, an der Mortolas Stock lehnte. Der Hund folgte hechelnd jeder seiner Bewegungen.
»Es wird nicht einfach!«, stellte Orpheus fest, während er sich über den Hund beugte und ihm zärtlich den hässlichen Kopf tätschelte. »Ich habe noch nie versucht, so viele gleichzeitig hinüberzulesen. Vielleicht sollten wir lieber versuchen, einen nach dem anderen.«
»Nein!«, unterbrach Mortola ihn barsch. »Nein, du liest uns zusammen hinüber, wie wir es besprochen haben.«
Orpheus zuckte die Schultern. »Nun gut, wie du meinst. Wie gesagt, es ist ein Risiko, denn.«
»Sei still! Ich will das nicht hören.« Mortola bohrte die knochigen Finger in die Armstützen des Sessels. (Ich werd mich nie wieder in das Ding hineinsetzen können, ohne an sie zu denken, dachte Elinor.) »Darf ich dich an die Zelle erinnern, deren Tür sich nur geöffnet hat, weil ich dafür bezahlt habe? Ein Wort von mir und du sitzt wieder genau dort, ohne Bücher und ohne ein einziges Blatt Papier. Glaub mir, ich werde dafür sorgen, wenn du versagst. Schließlich hast du den Feuerfresser auch ohne große Mühe hinübergelesen, nach dem, was Basta erzählt hat.«
»Ja, aber das war leicht, ganz leicht! Als hätte ich etwas wieder an seinen Platz zurückgelegt.« Orpheus blickte so versonnen aus Elinors Fenster, als sähe er Staubfinger draußen auf dem Rasen erneut verschwinden.
Mit einem Stirnrunzeln wandte er sich an Mortola. »Bei ihm ist es anders!«, sagte er, während er auf Mortimer wies. »Es ist nicht seine Geschichte. Er gehört nicht hinein.«
»Das tat seine Tochter auch nicht. Willst du sagen, dass sie besser liest als du?«
»Natürlich nicht!« Orpheus richtete sich kerzengerade auf. »Niemand kann es besser als ich. Habe ich das nicht bewiesen? Hast du nicht selbst gesagt, dass Staubfinger zehn Jahre nach jemandem gesucht hat, der ihn zurückliest?«
»Ja, ja, schon gut. Dann rede nicht länger.« Mortola griff nach ihrem Stock und richtete sich mühsam auf. »Wäre es nicht amüsant, wenn für uns auch so eine angriffslustige Katze aus den Buchstaben schlüpfen würde wie bei dem Feuerspucker? Bastas Hand ist immer noch nicht verheilt, und er hatte ein Messer und den Hund als Helfer.« Mit einem bösen Blick sah sie zu Elinor und Darius hinüber.
Elinor machte einen Schritt vor, trotz Bastas Flintenlauf. »Was soll das heißen? Ich komme natürlich mit!«
Mortola hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. »Ach, und wer, glaubst du, entscheidet das? Was soll ich mit dir? Oder mit Darius, dem dummen Stümper. Mein Sohn hätte zwar sicherlich nichts dagegen, auch euch an den Schatten zu verfüttern, aber ich will es Orpheus nicht zu schwer machen.« Mit ihrem Stock wies sie auf Mortimer. »Wir nehmen ihn mit! Niemanden sonst.«