»Ja, ja, schon gut, kein Wort mehr«, brummte Fenoglio. »Aber gib mir nicht die Schuld, wenn der Junge irgendwo eines der Lieder über ihn aufschnappt. Alle singen sie.«
Meggie verstand kein Wort von dem, was sie redeten, aber sie war mit ihren Gedanken ohnehin schon auf der Burg. Resa hatte ihr erzählt, dass die Vogelnester dort so dicht an den Mauern klebten, dass das Gezwitscher manchmal den Gesang der Spielleute übertönte. Auch Feen sollten dort nisten, blassgrau wie der Stein der Burgmauern, weil sie allzu oft von den Speisen der Menschen naschten statt sich wie ihre wilden Schwestern von Blüten und Früchten zu ernähren. Und in den Gärten im Inneren Hof sollten Bäume wachsen, die es sonst nur im tiefsten Herzen des Weglosen Waldes gab, Bäume, deren Blätter im Wind murmelten wie ein Chor von Menschenstimmen und in mondlosen Nächten von der Zukunft sprachen - nur dass niemand ihre Worte verstand.
»Willst du noch etwas?«
Meggie schreckte aus ihren Gedanken hoch.
»Tod und Tinte!« Fenoglio erhob sich und gab Minerva das Baby zurück. »Willst du sie jetzt etwa mästen, damit sie in das Kleid hineinpasst? Wir müssen los oder wir verpassen die Hälfte. Der Fürst hat mich gebeten, ihm das neue Lied noch vor Mittag zu bringen. Und du weißt, er mag es gar nicht, wenn man sich verspätet.«
»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Minerva mürrisch, während Fenoglio Meggie auf die Tür zuschob. »Weil ich nicht auf der Burg aus und ein gehe wie du. Was solltest du ihm denn diesmal dichten, dem hohen Herrn, wieder ein Klagelied?«
»Ja, mich langweilt es auch, aber er zahlt gut. Wäre es dir lieber, wenn ich bald keine Münze mehr in den Taschen hätte und du dir einen neuen Mieter suchen müsstest?«
»Schon gut, schon gut«, murrte Minerva, während sie die leeren Schalen der Kinder vom Tisch nahm. »Weißt du was?
Dieser Fürst wird sich noch zu Tode seufzen und klagen, und dann wird der Natternkopf seine Gepanzerten schicken. Wie Fliegen auf frischem Pferdemist werden sie sich hier breit machen, unter dem Vorwand, dass sie nur den armen vaterlosen Enkel ihres Herrn schützen wollen.«
Fenoglio drehte sich so abrupt um, dass er Meggie fast umstieß. »Nein, Minerva. Nein!«, sagte er entschieden. »Das wird nicht geschehen. Nicht, solange ich lebe - was hoffentlich noch sehr lange sein wird!«
»Ach ja?« Minerva zog die Finger ihres Sohnes aus dem Butterfass. »Und wie willst du das verhindern? Mit deinen Räuberliedern? Glaubst du, irgendein Dummkopf mit einer Federmaske, der den Helden spielt, weil er deine Lieder zu oft gehört hat, kann die Gepanzerten von unserer Stadt fern halten? Helden enden am Galgen, Fenoglio«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort und Meggie hörte die Angst hinter ihrem Spott. »In deinen Liedern ist das vielleicht anders, aber im wirklichen Leben hängt man sie auf. Daran ändern die schönsten Worte nichts.«
Die beiden Kinder sahen ihre Mutter beunruhigt an und Minerva strich ihnen übers Haar, als könnte sie ihre eigenen Worte damit fortwischen.
Fenoglio aber zuckte nur die Schultern. »Ach was, du siehst das alles viel zu schwarz!«, sagte er. »Du unterschätzt die Worte, glaub mir! Sie sind sehr mächtig, mächtiger, als du denkst. Frag Meggie!«
Doch bevor Minerva genau das tun konnte, schob er Meggie auch schon nach draußen. »Ivo, Despina, wollt ihr mit?«, rief er den Kindern zu. »Ich bring sie heil zurück, wie immer!«, rief er, als Minerva mit besorgtem Gesicht den Kopf aus der Tür steckte. »Die besten Gaukler weit und breit werden heute auf der Burg sein, sie werden von weit her kommen. Das dürfen die zwei doch nicht verpassen!«
Der Strom der Menschen zog sie mit sich, sobald sie hinaus auf die Gasse traten. Von allen Seiten drängten sie herbei -ärmlich gekleidete Bauern, Bettler, Frauen mit Kindern und Männer, deren Reichtum sich nicht nur in der Pracht ihrer bestickten Ärmel zeigte, sondern vor allem in den Dienern, die ihnen grob einen Weg durch die Menge bahnten. Reiter trieben ihre Pferde durch die Menschen ohne einen Blick auf die, die sie gegen die Mauern drängten, Sänften blieben stecken zwischen all den Leibern, sosehr ihre Träger auch schimpften und fluchten.
»Teufel, das ist ja schlimmer als an Markttagen!«, rief Fenoglio Meggie über die Köpfe hinweg zu. Ivo schlüpfte flink wie ein Hering durch das Menschengedränge, aber Despina blickte so erschrocken, dass Fenoglio sie schließlich auf seine Schultern hob, bevor sie zwischen Körben und Bäuchen zerquetscht wurde. Auch Meggie schlug das Herz schneller von all dem Durcheinander, dem Stoßen und Schieben, den tausend Gerüchen, all den Stimmen, die die Luft erfüllten.
»Meggie, sieh dich um! Ist es nicht prachtvoll?«, rief Fenoglio voll Stolz.
Ja, das war es. Es war so, wie Meggie es sich ausgemalt hatte, an all den Abenden, an denen Resa ihr von der Tintenwelt erzählt hatte. Ihre Sinne waren wie betäubt. Augen, Ohren. sie konnten kaum ein Zehntel von dem aufnehmen, was um sie her geschah. Von irgendwo klang Musik herüber, Trommeln, Schellen, Trompeten. Und dann öffnete sich die Gasse und spuckte sie mit all den anderen vor die Mauern der Burg. So hoch und wuchtig ragten sie zwischen den Häusern auf, als hätten größere Menschen sie gebaut als die, die jetzt auf das Tor zudrängten. Bewaffnete Wachen standen vor dem Tor, in ihren Helmen spiegelte sich blass der Morgen. Ihre Umhänge waren von einem dunklen Grün, ebenso wie die Kittel, die sie über den Kettenhemden trugen. Auf beiden prangte das Wappen des Speckfürsten - Resa hatte es Meggie beschrieben: ein Löwe auf grünem Grund, inmitten weißer Rosen -, doch das Wappen hatte sich verändert. Der Löwe weinte silberne Tränen, und die Rosen rankten sich um ein zerbrochenes Herz.
Die meisten der Herandrängenden ließen die Wachen pas-sieren, nur manchmal stießen sie jemanden zurück, mit dem Lanzenschaft oder der behandschuhten Faust. Niemanden schien das zu bekümmern, alles drängte weiter, und auch Meggie fand sich schließlich im Schatten der meterdicken Mauern wieder. Natürlich war sie schon in Burgen gewesen, mit Mo, aber es war ein völlig anderes Gefühl, statt an einem Postkartenhäuschen an lanzenbewehrten Wachen vorbeizugehen. Die Mauern schienen so viel bedrohlicher und abweisender. Seht her!, schienen sie zu rufen. Wie klein ihr seid, wie machtlos und zerbrechlich.
Fenoglio schien nichts dergleichen zu empfinden, er strahlte wie ein Kind an Weihnachten. Er beachtete weder die Fallgitter über ihren Köpfen noch die Luken, durch die man ungebetenen Besuchern heißes Pech auf die Köpfe schütten konnte. Meggie dagegen sah unwillkürlich hoch, als sie unter ihnen hindurchging, und fragte sich, wie frisch die Pechspuren auf dem verwitterten Holz waren. Doch schließlich war über ihr wieder der offene Himmel, blau und klar, wie blank gefegt für den fürstlichen Geburtstag - und Meggie stand auf dem Äußeren Hof der Burg von Ombra.
Besuch von der falschen Seite des Waldes
»Darkness always had its part to play.
Without it, how would we know, when we walked in the light? It’s only, when its ambitions become too grandiose, that it must be opposed, disciplined, some-times - if necessary - brought down for a time.
Then it will rise again, as it must.«
Clive Barker, Abarat
Das Erste, wonach Meggies Augen suchten, waren die Vogelnester, von denen Resa erzählt hatte, und wirklich, da klebten sie, gleich unterhalb der Zinnen, als hätten die Mauern Pusteln bekommen. Gelbbrüstige Vögel schossen aus den Löchern. Wie Goldflocken, die in der Sonne tanzen, so hatte Resa sie ihr beschrieben, und sie hatte Recht gehabt. Der Himmel über Meggie schien bedeckt von wirbelndem Gold, alles zu Ehren des prinzlichen Geburtstages. Immer mehr Menschen quollen durch das Tor, obwohl es auf dem Hof schon von ihnen wimmelte. Stände waren zwischen den Mauern aufgebaut, vor Ställen und Hütten, in denen Schmiede, Stallknechte und all die anderen hausten, die auf der Burg lebten und arbeiteten. An diesem Tag, an dem der Fürst seine Untertanen einlud, mit ihm den Geburtstag seines Enkels und Thronerben zu feiern, waren Essen und Trinken umsonst. »Sehr großzügig, nicht wahr?«, hätte Mo wahrscheinlich geflüstert. »Essen und Trinken, das von ihren Feldern stammt, gewonnen mit ihrer Hände Arbeit.« Mo mochte Burgen nicht sonderlich. Doch so war Fenoglios Welt bestellt: Das Land, auf dem die Bauern schwitz - ten, gehörte den Fürsten, also gehörte ihm auch ein Großteil der Ernte, und er kleidete sich in Samt und Seide, während seine Bauern geflickte Kittel trugen, die auf der Haut kratzten.