Zehn Jahre. Zehn Jahre, die er in der falschen Geschichte verbracht hatte. Zehn Jahre, in denen die eine Tochter der Tod geholt hatte, nichts als Erinnerungen zurücklassend, so blass und unscharf, als hätte es sie nie gegeben, und die andere gewachsen war, all die Jahre, gelacht und geweint hatte, ohne dass er dabei gewesen war. Heuchler!, sagte er sich, während er die Augen nicht von Briannas Gesicht wenden konnte. Willst du dir jetzt etwa weismachen, dass du ein treu sorgender Vater warst, bevor Zauberzunge dich in seine Geschichte lockte?
Cosimos Sohn lachte laut auf. Mit kurzem Finger zeigte er mal auf den einen, mal auf den anderen Gaukler und fing die Blüten auf, die die Spielfrauen ihm zuwarfen. Wie alt war er? Fünf? Sechs?
So alt war Brianna auch gewesen, als Zauberzunges Stimme ihn fortgelockt hatte. Bis zum Ellbogen hatte sie ihm gereicht, und so leicht war sie gewesen, dass er es kaum bemerkt hatte, wenn sie ihm auf den Rücken geklettert war. Wenn er wieder einmal die Zeit vergessen und viele Wochen fort gewesen war, an Orten, deren Namen sie noch nie gehört hatte, hatte sie ihn geschlagen mit ihren kleinen Fäusten und ihm die Geschenke, die er ihr mitbrachte, vor die Füße geworfen. Dann war sie in der nächsten Nacht aus dem Bett geschlüpft, um sie sich doch zu holen: bunte Bänder, weich wie Kaninchenfell, Stoffblüten, die sie sich ins Haar stecken konnte, kleine Pfeifen, mit denen sich die Stimme einer Lerche oder einer Eule nachahmen ließ.
Sie hatte es ihm nie erzählt, natürlich nicht, sie war stolz, noch stolzer als ihre Mutter, aber er hatte immer gewusst, wo sie seine Geschenke versteckte - in einem Beutel zwischen ihren Kleidern. Ob sie ihn noch besaß?
Ja, sie hatte seine Geschenke aufbewahrt, doch ein Lächeln hatten sie ihr nicht aufs Gesicht zaubern können, wenn er lange fort gewesen war. Das hatte immer nur das Feuer vermocht, und für einen Moment, einen verführerischen Moment war er versucht, hinauszutreten aus der gaffenden Menge, sich zwischen die anderen Gaukler zu stellen, die dem Fürstenenkel ihre Kunststücke vorführten, und das Feuer zu rufen, nur für seine Tochter. Aber er blieb stehen, unsichtbar hinter all den Menschen, beobachtete, wie sie sich mit der flachen Hand übers Haar strich, auf die gleiche Art, wie ihre Mutter es so oft tat, wie sie sich unauffällig die Nase rieb und von einem Fuß auf den anderen trat, als würde sie viel lieber dort unten mittanzen, statt so steif dazustehen.
»Friss ihn, Bär! Friss ihn auf der Stelle! Er ist tatsächlich zurück, aber denkst du, er lässt sich bei einem alten Freund sehen?«
Staubfinger fuhr herum, so abrupt, dass er fast von dem Fass stolperte, auf dem er immer noch stand. Der Schwarze Prinz sah zu ihm hoch, hinter sich den Bären. Staubfinger hatte gehofft, dass er ihn hier treffen würde, umgeben von Fremden, statt im Lager der Spielleute, wo es zu viele gab, die fragen würden, fragen, wo er gewesen sei. Seit sie beide so alt gewesen waren wie der Fürstensohn, der dort oben in seinem Sessel thronte, kannten sie sich - Gauklersöhne, elternlos, erwachsen vor der Zeit, und Staubfinger hatte das schwarze Gesicht fast ebenso vermisst wie das von Roxane.
»Frisst er mich wirklich, wenn ich von dem Fass steige?«
Der Prinz lachte. Es klang immer noch so unbekümmert wie früher. »Vielleicht. Schließlich merkt er, dass ich es dir wirklich sehr übel nehme, dass du dich noch nicht hast sehen lassen.
Außerdem - hast du ihm nicht bei eurer letzten Begegnung den Pelz verbrannt?«
Schleicher duckte sich auf Staubfingers Schulter zusammen, als sein Herr von dem Fass sprang, und keckerte ihm aufgeregt ins Ohr. »Keine Sorge, so was wie dich frisst der Bär nicht!«, raunte Staubfinger ihm zu - und umarmte den Prinzen so fest, als könnte man mit einer Umarmung zehn Jahre wettmachen.
»Du riechst immer noch mehr nach Bär als nach Mensch.«
»Und du riechst nach Feuer. Nun sag schon. Wo warst du?« Der Prinz schob Staubfinger auf Armeslänge von sich und musterte ihn, als könnte er ihm alles, was während seiner Abwesenheit geschehen war, von der Stirn ablesen. »Die Brandstifter haben dich nicht aufgeknüpft, wie manche behaupten, dazu siehst du zu gesund aus. Was ist mit der anderen
Geschichte - dass der Natternkopf dich in seinen feuchtesten Kerker gesperrt hat? Oder hast du dich, wie es in einigen Liedern heißt, für eine Weile in einen Baum verwandelt, in einen Baum mit brennenden Blättern, tief im Weglosen Wald?«
Staubfinger lächelte. »Das hätte mir gefallen. Aber glaub mir, die wirkliche Geschichte würdest selbst du mir nicht glauben.«
Ein Raunen lief durch die Menge. Staubfinger spähte über die Köpfe und sah, wie Farid mit hochrotem Kopf den Applaus entgegennahm. Der Sohn der Hässlichen klatschte so heftig, dass er fast aus seinem Sessel fiel. Farid aber suchte in der Menge nach Staubfingers Gesicht. Er lächelte dem Jungen zu - und spürte, wie der Prinz ihn nachdenklich ansah.
»Der Junge gehört also wirklich zu dir?«, sagte er. »Nein, keine Sorge, ich stell dir keine weiteren Fragen. Ich weiß, du liebst es, deine Geheimnisse zu haben. Das wird sich kaum geändert haben. Aber die Geschichte, von der du gesprochen hast, will ich trotzdem irgendwann hören. Und eine Vorstellung bist du uns auch schuldig. Wir können alle ein bisschen Aufmunterung brauchen. Die Zeiten sind schlecht, selbst auf dieser Seite des Waldes, auch wenn es heute nicht so aussieht.«
»Ja, das hab ich schon gehört. Und der Natternkopf liebt dich offenbar immer noch. Was hast du angestellt, dass er dir mit dem Galgen droht? Hat dein Bär sich einen seiner Hirsche geholt?« Staubfinger strich Schleicher über das gesträubte Fell. Der Marder ließ den Bären nicht aus den Augen.
»Oh, glaub mir, die Natter ahnt kaum die Hälfte von dem, was ich anstelle, sonst hinge ich längst von den Zinnen der Nachtburg!«
»Ach ja?« Über ihnen hockte der Seiltänzer auf seinem Seil, inmitten seiner Vögel, und ließ die Beine baumeln, als ginge das Menschengewimmel unter ihm ihn nichts an. »Prinz, mir gefällt der Ausdruck in deinen Augen nicht«, sagte Staubfinger, während er zu dem Gaukler hinaufblickte. »Reiz den Natternkopf nicht noch mehr, sonst wird er dich jagen lassen, so wie er es schon mit anderen getan hat. Und dann bist du auch auf dieser Seite des Waldes nicht mehr sicher!«
Jemand zupfte ihn am Ärmel. Staubfinger wandte sich so abrupt um, dass Farid erschrocken zurückfuhr.
»Entschuldige!«, stammelte er und nickte dem Prinzen unsicher zu. »Meggie ist da. Mit Fenoglio!« Er klang so aufgeregt, als hätte er den Speckfürsten persönlich getroffen.
»Wo?« Staubfinger blickte sich um, doch Farid starrte nur auf den Bären, der dem Prinzen zärtlich die Schnauze auf den Kopf gelegt hatte. Der Schwarze Prinz lächelte und schob die Bärenschnauze zur Seite.
»Wo?«, wiederholte Staubfinger ungeduldig. Fenoglio war wahrhaftig der letzte Mensch, den er treffen wollte.
»Dahinten, gleich hinter der Tribüne!«
Staubfinger spähte in die Richtung, in die Farids Finger wies. Tatsächlich, da stand der Alte, zwei Kinder neben sich, wie damals, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Zauberzunges Tochter stand neben ihm. Sie war groß geworden - und ihrer Mutter noch ähnlicher. Staubfinger stieß einen leisen Fluch aus. Was wollten sie hier, in seiner Geschichte? Sie hatten damit ebenso wenig zu schaffen wie er mit der ihren. Ach ja?, spottete eine Stimme in seinem Inneren. Das sieht der Alte vermutlich anders. Hast du schon vergessen, dass er behauptet, der Schöpfer von alldem hier zu sein?
»Ich will ihn nicht sehen«, sagte er zu Farid. »An dem Alten klebt das Unglück und Schlimmeres, merk dir das.«
»Redet der Junge vom Tintenweber?« Der Prinz trat so dicht an Staubfingers Seite, dass der Marder ihn anzischte. »Was hast du gegen ihn? Er schreibt gute Lieder.«
»Er schreibt auch noch anderes.« Wer weiß, was er schon über dich geschrieben hat!, fügte Staubfinger in Gedanken hinzu. Ein paar wohlgesetzte Worte und schon bist du tot, Prinz.