»He!«, rief sie so laut, dass Darius hinter ihr zusammenfuhr. »He, warte, du Schrank! Aufmachen! Ich muss mit Orpheus reden!«
Aber hinter der Tür blieb es still. Elinor sank vor der Tür auf die Knie. Sie spürte, wie Darius neben sie trat und ihr zaghaft die Hand auf die Schulter legte. »Er kommt zurück«, sagte er leise. »Wenigstens sind sie noch da, nicht wahr?« Dann kehrte er zu der Luftmatratze zurück.
Elinor aber saß da, den Rücken gegen die kalte Kellertür gelehnt, und lauschte in die Stille. Nicht mal die Vögel hörte man hier unten, nicht das kleinste Grillenzirpen. Meggie holt sie zurück, dachte sie. Meggie holt sie zurück! Aber was, wenn ihre Eltern längst.?
Falscher Gedanke, Elinor. Falscher Gedanke.
Sie schloss die Augen und hörte, wie Darius wieder zu pumpen begann.
Ich hätte es gespürt!, dachte sie. Ja, das hätte ich. Ich hätte gespürt, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre. In allen Geschichten steht es so, und sie können doch nicht alle lügen!
Das Lager im Wald
I thought it said in every tick:
I am so sick, so sick, so sick;
O Death, come quick, come quick, come quick.
Frances Cornford, The Watch G".
Resa wusste nicht, wie lange sie schon so dasaß, einfach nur dasaß in der dämmrig dunklen Höhle, die den Spielleuten als Schlafplatz diente, und Mos Hand hielt. Eine der Spielfrauen brachte ihr etwas zu essen und ab und zu huschte eins der Kinder herein, lehnte sich gegen die Höhlenwand und lauschte dem, was sie Mo mit leiser Stimme erzählte - von Meggie und Elinor, von Darius, von der Bibliothek und den Büchern und von seiner Werkstatt, in denen er sie heilte, von Krankheiten und Wunden, ebenso schlimm wie die seine. Wie seltsam mussten den Spielleuten ihre Geschichten vorkommen, aus einer anderen, nie gesehenen Welt. Und wie seltsam musste es ihnen erst erscheinen, dass sie mit jemandem sprach, der so reglos dalag, die Augen geschlossen, als würde er sie nie wieder öffnen.
Mit drei Männern war die Alte zu Capricorns Festung zurückgekehrt, gerade als die fünfte Weiße Frau auf der Treppe erschien. Der Weg war nicht sonderlich weit gewesen. Resa hatte Wachen zwischen den Bäumen stehen sehen, als sie das Lager betraten. Was sie bewachten, waren Krüppel und Alte, Frauen mit kleinen Kindern - aber offenbar auch solche, die sich hier einfach nur ausruhten von dem ruhelosen Leben auf den Straßen.
»Vom Prinzen«, hatte einer der Spielmänner, die Mo hergebracht hatten, geantwortet, als Resa fragte, woher Essen und Kleidung für all die Menschen kamen. Und als sie gefragt hatte, welchen Prinzen er meinte, hatte er ihr zur Antwort nur einen schwarzen Stein in die Hand gedrückt.
Sie nannten sie die Nessel - die Alte, die so plötzlich im Tor von Capricorns Festung gestanden hatte. Jeder behandelte sie mit Respekt, aber etwas Furcht war wohl auch im Spiel. Resa hatte ihr helfen müssen, als sie Mos Wunde ausgebrannt hatte. Ihr wurde noch immer übel, wenn sie daran zurückdachte. Danach hatte sie der Alten geholfen, die Wunde wieder zu verbinden, hatte sich all ihre Anweisungen gemerkt. »Wenn er in drei Tagen noch atmet, wird er vielleicht leben«, hatte sie gesagt, bevor sie sie wieder allein ließ, in der Höhle, die vor wilden Tieren, vor Sonne und Regen schützte, aber nicht vor der Angst und schwarzen verzweifelten Gedanken.
Drei Tage. Draußen wurde es dunkel und wieder hell, hell und wieder dunkel, und jedes Mal, wenn die Nessel erneut kam und sich über Mo beugte, suchte Resa in ihrem Gesicht verzweifelt nach etwas Hoffnung, aber das Gesicht der Alten blieb ausdruckslos. Die Tage verstrichen und Mo atmete weiter, aber er wollte einfach nicht die Augen öffnen.
In der Höhle roch es nach Pilzen, der Lieblingsspeise der Kobolde, vermutlich hatte früher eine ganze Horde von ihnen hier gehaust. Jetzt mischte sich der Pilzgeruch mit dem von trockenem Laub. Die Spielleute hatten den kalten Höhlenboden damit bestreut, mit Laub und duftenden Kräutern. Thymian, Mädesüß, Waldmeister. Resa zerrieb die trockenen Blätter zwischen den Fingern, während sie dasaß und Mos Stirn kühlte, die längst nicht mehr kalt, sondern heiß war, so heiß. Der Duft des Thymians erinnerte sie an eine Feengeschichte, die er ihr vorgelesen hatte, vor unendlich langer Zeit, als er noch nicht gewusst hatte, dass seine Stimme jemanden wie Capricorn aus den Buchstaben locken konnte. Bring keinen wilden Thymian ins Haus, hatte es darin geheißen, das Unglück klebt daran. Resa warf die harten Stängel fort und wischte sich an ihrem Kleid den Duft von den Fingern.
Eine der Frauen brachte ihr erneut etwas zu essen und setz-te sich eine Weile neben sie, schweigend, als wollte sie ihr durch ihre Gegenwart etwas Trost spenden. Kurz darauf kamen auch drei der Männer herein, aber sie blieben im Höhleneingang stehen und musterten sie und Mo nur von ferne. Sie tuschelten miteinander, während sie zu ihnen herübersahen.
»Sind wir willkommen hier?«, fragte Resa die Nessel bei einem ihrer schweigsamen Besuche. »Ich glaube, sie reden über uns.«
»Lass sie reden!«, antwortete die Alte nur. »Ich habe ihnen erzählt, dass ihr von Wegelagerern überfallen wurdet, aber natürlich reicht ihnen das nicht. Eine schöne Frau, ein Mann mit einer seltsamen Wunde, wo kommen sie her? Was ist geschehen? Sie sind neugierig. Und wenn du klug bist, lässt du nicht allzu viele die Narbe an seinem Arm sehen.«
»Warum?« Resa sah sie verständnislos an.
Die Alte musterte sie, als wollte sie ihr ins Herz sehen. »Nun, wenn du das wirklich nicht weißt, dann bleibt es auch besser so«, sagte sie schließlich. »Und lass sie reden. Was sollen sie schon sonst groß tun? Einige kommen her, um auf den Tod zu warten, andere, dass das Leben endlich beginnt, und wieder andere leben nur noch von den Geschichten, die man ihnen erzählt. Seiltänzer, Feuerspucker, Bauern, Fürsten -sie sind alle gleich, Fleisch und Blut und ein Herz, das weiß, dass es irgendwann aufhört zu schlagen.«
Feuerspucker. Resas Herz tat einen Satz, als die Nessel das Wort aussprach. Natürlich. Warum hatte sie daran nicht eher gedacht? »Bitte!«, sagte sie, als die alte Frau schon wieder im Eingang der Höhle stand. »Du kennst doch sicher viele Spielleute. Ist einer unter ihnen, der sich Staubfinger nennt?«
Die Nessel drehte sich so langsam um, als müsste sie erst entscheiden, ob sie antworten wollte. »Staubfinger?«, wiederholte sie schließlich mürrisch. »Du wirst kaum einen Spielmann finden, der ihn nicht kennt, aber seit Jahren hat ihn keiner gesehen. Obwohl es Gerüchte gibt, dass er zurück ist.«
Ja, er ist zurück, dachte Resa, und er wird mir helfen, so wie ich ihm geholfen habe, in der anderen Welt.
»Ich muss ihm eine Nachricht schicken!« Sie hörte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang. »Bitte.«
Die Nessel musterte sie ohne eine Regung auf dem braunen Gesicht. »Wolkentänzer ist hier«, sagte sie schließlich. »Sein Bein schmerzt ihn wieder, aber sobald es besser ist, zieht er weiter. Frag ihn, ob er sich umhört für dich und deine Nachricht mitnimmt.« Dann war sie fort. Wolkentänzer.
Draußen wurde es wieder dunkel, und mit der Dunkelheit kamen Männer, Kinder und Frauen in die Höhle und legten sich zum Schlafen auf das Laub - abseits von ihr, als wäre Mos Reglosigkeit etwas Ansteckendes. Eine der Frauen brachte ihr eine Fackel. Sie malte zuckende Schatten an die Felswände, Schatten, die Grimassen schnitten und mit schwarzen Fingern über Mos blasses Gesicht strichen. Die Weißen Frauen hielt das Feuer nicht fern, auch wenn es hieß, dass sie es begehrten und zugleich fürchteten. Immer wieder erschienen sie in der Höhle, wie bleiche Spiegelbilder, die Gesichter aus Nebel geformt. Sie kamen näher und verschwanden wieder, vermutlich vertrieb sie der bitterherbe Geruch der Blätter, die die Nessel um Mos Lager gelegt hatte. »Es hält sie fern«, hatte die alte Frau gesagt, »aber aufpassen musst du trotzdem.«