»Unsinn!« Fenoglio wischte den Gedanken fort wie ein lästiges Insekt. »An deinem bösen Traum ist nur Rosenquarz schuld. Bestimmt haben die Feen sich in der Nacht auf deine Stirn gesetzt, weil er sie geärgert hat! Sie sind rachsüchtige kleine Dinger, und an wem sie sich rächen, ist ihnen leider vollkommen egal.«
»Ach so.« Meggie tauchte die Finger erneut ins Wasser. Es war so kalt, dass sie schauderte. Sie hörte die waschenden Frauen lachen, und eine Feuerelfe ließ sich auf ihrem Arm nieder. Insektenaugen starrten sie an aus einem Menschengesicht. Hastig scheuchte Meggie das winzige Geschöpf fort.
»Sehr weise«, stellte Fenoglio fest. »Vor Feuerelfen musst du dich hüten. Sie verbrennen dir die Haut.«
»Ich weiß, Resa hat mir von ihnen erzählt.« Meggie sah der Elfe hinterher. Auf ihrem Arm brannte dort, wo sie sich niedergelassen hatte, ein roter Fleck.
»Sie sind meine Erfindung«, erklärte Fenoglio stolz. »Sie produzieren einen Honig, der in die Lage versetzt, mit dem Feuer zu sprechen. Sehr begehrt unter Feuerspuckern, aber die Elfen greifen jeden an, der ihren Nestern zu nahe kommt, und kaum einer weiß, wie man es anstellt, den Honig zu stehlen, ohne dafür aufs abscheulichste verbrannt zu werden. Wenn ich es recht überlege, ist Staubfinger wohl der Einzige.«
Meggie nickte nur. Sie hatte kaum zugehört. »Worüber wolltest du mit mir reden? Du willst, dass ich etwas lese, stimmt’s?«
Ein paar welke rote Blüten trieben auf dem Wasser vorbei, rot wie getrocknetes Blut, und Meggies Herz begann erneut so heftig zu klopfen, dass sie die Hand gegen die Brust presste. Was war nur los mit ihr?
Fenoglio schnürte den Beutel an seinem Gürtel auf und schüttelte einen flachen roten Stein in seine Hand. »Ist er nicht prächtig?«, fragte er. »Ich habe ihn heute Morgen besorgt, du hast noch geschlafen. Es ist ein Beryll, ein Lesestein. Man benutzt ihn wie eine Brille.«
»Ich weiß. Und?« Meggie strich mit den Fingerspitzen über den glatten Stein. Mo besaß mehrere. Sie lagen auf der Fensterbank seiner Werkstatt.
»Und? Nun sei doch nicht so ungeduldig! Violante ist fast so blind wie ein Maulwurf, und ihr reizendes Söhnchen hat ihren alten Lesestein versteckt. Also hab ich einen neuen besorgt (auch wenn mich das fast ruiniert hat). Dafür wird sie mir hoffentlich so dankbar sein, dass sie uns einiges über ihren verstorbenen Gatten erzählt! Ich weiß, ich habe Cosimo erfunden, aber es ist lange her, dass ich über ihn geschrieben habe. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht sonderlich gut, außerdem. wer weiß, wie er sich verändert hat, seit diese Geschichte es sich in den Kopf gesetzt hat, sich selbst weiterzuerzählen!«
Eine böse Ahnung regte sich in Meggie. Nein, das konnte er nicht vorhaben. Nicht einmal Fenoglio würde auf eine solche Idee kommen. Oder?
»Hör zu, Meggie!« Er senkte die Stimme, als könnten die Frauen, die flussaufwärts ihre Wäsche wuschen, ihn vielleicht doch hören. »Wir zwei werden Cosimo zurückholen!«
Meggie richtete sich so abrupt auf, dass sie fast ausrutschte und in den Fluss fiel. »Du bist verrückt. Vollkommen verrückt! Cosimo ist tot!«
»Kann das jemand beweisen?« Fenoglios Lächeln gefiel ihr ganz und gar nicht. »Ich hab es dir doch gesagt - seine Leiche war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Selbst sein Vater war nicht sicher, ob es wirklich Cosimo war! Erst als ein halbes Jahr verstrichen war, hat er den Toten in dem Sarkophag bestatten lassen, der für seinen Sohn bestimmt war.«
»Aber es war Cosimo, oder?«
»Wer will das sagen? Es war ein furchtbares Gemetzel. Man sagt, die Brandstifter hätten irgendein Alchemistenpulver in ihrer Festung gelagert. Der Brandfuchs hat es angezündet, um zu entkommen. Die Flammen haben Cosimo und die meisten seiner Männer eingeschlossen, die Mauern sind über ihnen eingestürzt, und niemand konnte später sagen, wer die Toten waren, die man unter den Trümmern fand.«
Meggie schauderte. Fenoglio aber schien das alles sehr zu gefallen. Sie konnte kaum glauben, wie zufrieden er aussah.
»Er war es bestimmt, du weißt es!« Meggie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Fenoglio! Wir können keinen Toten zurückholen!«
»Ich weiß, ich weiß, vermutlich nicht.« Aus seiner Stimme klang tiefstes Bedauern. »Obwohl - sind die Toten nicht auch zurückgekommen, als du den Schatten gerufen hast?«
»Nein! Sie sind alle wieder zu Asche geworden! Schon nach wenigen Tagen. Elinor hat schrecklich geweint - sie ist in Capricorns Dorf gefahren, obwohl Mo versucht hat, es ihr auszureden, und auch dort war niemand mehr. Sie waren alle fort. Für immer.«
»Hm.« Fenoglio starrte auf seine Hände. Sie sahen aus wie die Hände eines Bauern oder eines Handwerkers, nicht wie Hände, die nur eine Feder führten. »Also nicht, nun gut!«, murmelte er. »Ist vielleicht auch besser so. Wie soll eine Geschichte funktionieren, wenn jeder jederzeit von den Toten zurückkehren kann? Ein hoffnungsloses Durcheinander würde das geben und die ganze Spannung ruinieren! Nein. Du hast Recht: Die Toten sollten tot bleiben. Und deshalb werden wir auch nicht Cosimo zurückholen, sondern nur jemanden, der so aussieht wie er!«
». so aussieht? Du bist verrückt!«, flüsterte Meggie. »Vollkommen verrückt!«
Aber dieses Urteil beeindruckte Fenoglio nicht im Geringsten. »Na und? Alle Schriftsteller sind verrückt! Glaub mir, ich werde meine Worte sehr sorgsam auswählen, so sorgsam, dass unser nagelneuer Cosimo der festen Überzeugung sein wird, er sei der alte. Verstehst du, Meggie? Selbst wenn er nur ein Doppelgänger ist - er muss es ja nicht wissen. Er darf es nicht wissen! Was sagst du?« Meggie schüttelte nur den Kopf. Sie war nicht hergekommen, um diese Welt zu ändern. Sie hatte sie nur sehen wollen!
»Meggie!« Fenoglio legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast den Speckfürsten gesehen. Er kann jeden Tag ster-ben, und was dann? Der Natternkopf lässt nicht nur Spielleute aufknüpfen! Er lässt seine Bauern blenden, wenn sie im Wald ein Kaninchen fangen. Er lässt Kinder in seinen Silberbergwerken arbeiten, bis sie blind und krumm sind, und zu seinem Herold hat er den Brandfuchs gemacht, einen Brandstifter und Totschläger!«
»Ach ja? Und wer hat ihn so erfunden? Du!« Ärgerlich stieß Meggie seine Hand weg. »Du hattest schon immer eine Vorliebe für deine Bösewichter.«
»Nun ja! Mag sein.« Fenoglio zuckte die Schultern, als wäre das etwas, gegen das er völlig machtlos war. »Aber was sollte ich machen? Wer will schon eine Geschichte über zwei nette Fürsten lesen, die über eine lustige Schar vollkommen glücklicher Untertanen herrschen? Was für eine Geschichte sollte das sein?«
Meggie beugte sich über den Fluss und fischte eine der roten Blüten heraus. »Du erfindest sie gern!«, sagte sie leise. »All diese Scheusale.«
Darauf wusste selbst Fenoglio nichts zu erwidern. Und so schwiegen sie beide, während die Frauen drüben ihre Wäsche auf den Steinen zum Trocknen auslegten. Es war immer noch warm in der Sonne, trotz der welken Blüten, die der Fluss unermüdlich ans Ufer schwemmte.
Fenoglio war es schließlich, der das Schweigen brach. »Bitte, Meggie!«, sagte er. »Nur noch das eine Mal. Wenn du mir hilfst, diese Geschichte wieder an den Zügel zu nehmen, schreibe ich dir die allerwunderbarsten Worte, um dich wieder nach Hause zu bringen - wann immer du willst! Und solltest du es dir vielleicht anders überlegen, weil es dir in meiner Welt besser gefällt, dann hol ich dir auch deinen Vater her. und deine Mutter. selbst diese Bücherfresserin, obwohl ich glaube, dass sie eine furchtbare Person ist, nach dem, was du mir erzählt hast!«
Darüber musste Meggie lächeln. Ja, Elinor würde es hier gefallen, dachte sie, und Resa würde sicherlich auch gern noch einmal herkommen. Aber Mo, nein, Mo nicht. Niemals.
Mit einem Ruck stand sie auf und strich sich das Kleid glatt. Sie blickte zur Burg hinauf und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn dort oben der Natternkopf herrschte mit seinem Salamanderblick. Schon der Speckfürst hatte ihr nicht sonderlich gefallen.