»Nun, es tut mir wirklich Leid, dass Ihr Eure Kunst an solche Nichtigkeiten verschwenden müsst«, erwiderte Fenoglio, ohne auch nur einen Blick auf die Arbeit zu werfen, die Balbulus gerade vor sich liegen hatte. Auch Farid schien das Bild nicht zu interessieren. Er blickte zum Fenster, vor dem der Himmel blauer leuchtete als alle Farbe, die an den feinen Pinseln klebte. Meggie aber wollte sehen, wie viel Balbulus von seiner Kunst verstand, ob seine Miene zu Recht so hochmütig war. Unauffällig machte sie einen Schritt nach vorn. Sie sah ein Bild, mit Blattgold umrandet, eine Burg war darauf zu sehen zwischen grünen Hügeln, ein Wald, Reiter, prächtig gekleidet zwischen den Bäumen, Feen, die sie umschwirrten, und ein weißer Hirsch, der sich zur Flucht wandte. Nie zuvor hatte sie ein Bild wie dieses gesehen. Es leuchtete wie buntes Glas - wie ein Fenster auf dem Pergament. Zu gern hätte sie sich darüber gebeugt, Gesichter, Zaumzeug, Blumen und Wolken betrachtet, doch Balbulus warf ihr einen so eisigen Blick zu, dass sie errötend zurückwich.
»Das Gedicht, das Ihr gestern gebracht habt«, sagte Balbu-lus mit gelangweilter Stimme, während er sich wieder über seine Arbeit beugte, »das war gut. Ihr solltet öfter etwas von dieser Art schreiben, aber ich weiß ja, Ihr verfasst lieber Geschichten für Kinder oder Lieder für das Bunte Volk. Warum?
Damit Eure Worte der Wind singt? Gesprochene Worte leben kaum länger als ein Insekt! Nur das geschriebene Wort lebt ewig.«
»Ewig?« Fenoglio sprach das Wort aus, als gäbe es kein lächerlicheres auf der Welt. »Nichts ist ewig, Balbulus - und Worten kann nichts Besseres passieren, als von einem Spielmann gesungen zu werden! Ja, sicher, sie verändern sich dadurch, werden jedes Mal auf etwas andere Weise gesungen, aber ist das nicht wunderbar? Eine Geschichte, die stets ein anderes Kleid trägt, wenn man sie wiederhört - was gibt es Besseres? Eine Geschichte, die wächst und Blüten treibt wie ein lebendiges Ding! Seht Euch dagegen die an, die man in Bücher presst! Gut, vielleicht leben sie länger, aber sie atmen nur, wenn ein Mensch das Buch öffnet. Sie sind Klang, zwischen Papier gepresst, und erst eine Stimme erweckt sie wieder zum Leben! Dann sprühen sie Funken, Balbulus! Frei wie Vögel werden sie, die in die Welt hinausflattern. Ja. Vielleicht habt Ihr Recht, und das Papier macht sie unsterblich. Aber was soll mich das kümmern? Lebe ich etwa weiter, säuberlich zwischen die Seiten gepresst, mitsamt meiner Worte? Unsinn! Wir sind nicht unsterblich, daran werden auch die schönsten Wörter nichts ändern. Oder?«
Balbulus hatte ihm mit ausdruckslosem Gesicht zugehört. »Welch ungewöhnliche Ansichten, Tintenweber!«, sagte er. »Ich für mein Teil halte sehr viel von der Unsterblichkeit meiner Arbeit und sehr wenig von Spielmännern. Aber warum geht Ihr jetzt nicht zu Violante? Bestimmt muss sie bald fort, um sich die Klagen irgendeines Bauern anzuhören oder das Gejammer eines Händlers über die Wegelagerer, die die Straßen unsicher machen. Zurzeit ist es fast unmöglich, an annehmbares Pergament zu kommen. Geraubt wird es und dann zu unverschämten Preisen auf den Märkten angeboten! Macht Ihr Euch irgendeine Vorstellung davon, wie viele Ziegen man für die Niederschrift einer Eurer Geschichten schlachten muss?«
»Für jede Doppelseite ungefähr eine«, sagte Meggie und fing sich einen weiteren eisigen Blick von Balbulus ein.
»Kluges Mädchen«, sagte er in einem Ton, der seine Worte eher nach einer Beleidigung als nach einem Lob klingen ließ. »Und warum? Weil diese Dummköpfe von Hirten ihre Herden durch Dornen und Stachelgebüsch treiben, ohne daran zu denken, dass man ihre Haut zum Schreiben braucht!«
»Tja, ich erkläre es Euch ja immer wieder«, sagte Fenoglio, während er Meggie auf die Bibliothekstür zuschob. »Papier, Balbulus. Papier ist der Stoff der Zukunft.«
»Papier!« Balbulus ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Himmel, Tintenweber, Ihr seid noch verrückter, als ich dachte.«
Meggie hatte mit Mo schon so viele Bibliotheken besucht, dass sie sie nicht zählen konnte. Viele waren größer, doch kaum eine war schöner gewesen als die des Speckfürsten. Man sah ihr immer noch an, dass sie einst der Lieblingsplatz ihres Besitzers gewesen war. Von Cosimo gab es hier nur eine Büste aus weißem Stein, jemand hatte Rosenblüten davor gelegt. Die Teppiche, die die Wände schmückten, waren schöner als die im Thronsaal, die Leuchter schwerer, die Farben wärmer, und Meggie hatte genug in Balbulus’ Werkstatt gesehen, um zu ahnen, welche Schätze sie hier umgaben. Angekettet standen sie in den Regalen, nicht wie in Elinors Bibliothek Rücken an Rücken, sondern den Schnitt nach vorn gekehrt, weil sich dort der Titel fand. Vor den Regalen reihten sich Pulte, vermutlich den neuesten Kostbarkeiten vorbehalten. Angekettet wie ihre Geschwister in den Regalen lagen die Bücher darauf und verschlossen, damit kein schädlicher Lichtstrahl auf Balbulus’ Bilder fiel, und die Fenster der Bibliothek waren zusätzlich verhängt mit schweren Stoffen. Offenbar wusste der Speckfürst, wie gern das Sonnenlicht an Büchern fraß. Nur zwei ließen das schädliche Licht herein. Vor einem stand die Hässliche, so tief über ein Buch gebeugt, dass sie sich fast die Nase an den Seiten stieß.
»Balbulus wird immer besser, Brianna«, sagte sie.
»Er ist gierig! Eine Perle dafür, dass er Euch in die Bibliothek Eures Schwiegervaters lässt!« Ihre Dienerin stand an dem anderen Fenster, den Blick nach draußen gewandt, während Violantes Sohn an ihrer Hand zerrte.
»Brianna!«, maulte er. »Komm jetzt. Es ist langweilig. Komm mit auf den Hof. Du hast es versprochen.«
»Von den Perlen kauft Balbulus neue Farben! Wovon soll er es sonst tun? Gold wird auf dieser Burg nur noch für die Standbilder eines Toten ausgegeben.« Violante fuhr zusammen, als Fenoglio die Tür hinter sich zuzog. Schuldbewusst verbarg sie ihr Buch hinter dem Rücken. Erst als sie sah, wer vor ihr stand, entspannte sich ihr Gesicht. »Fenoglio!«, sagte sie und strich sich das mausbraune Haar aus der Stirn. »Müsst Ihr mich so erschrecken?« Das Mal auf ihrem Gesicht glich dem Abdruck einer Pfote.
Fenoglio griff mit einem Lächeln in den Beutel an seinem Gürtel. »Ich habe Euch etwas mitgebracht.«
Violantes Finger schlossen sich begierig um den roten Stein. Ihre Hände waren klein und rund wie die eines Kindes. Hastig schlug sie das Buch wieder auf, das sie hinter dem Rücken versteckt hatte, und hielt den Beryll vor eins ihrer Augen.
»Brianna, komm jetzt, oder ich sag ihnen, sie sollen dir die Haare abschneiden!« Jacopo griff der Dienerin ins Haar und zog so heftig daran, dass sie aufschrie. »Mein Großvater macht es auch so. Er schert den Spielfrauen die Köpfe kahl und den Frauen, die im Wald wohnen. Er sagt, sie verwandeln sich nachts in Eulen und schreien vor den Fenstern, bis man tot im Bett liegt.«
»Sieh mich nicht so an!«, raunte Fenoglio Meggie zu. »Den Satansbraten hab ich nicht erfunden. He, Jacopo!« Er gab Farid einen auffordernden Stoß mit dem Ellbogen, während Bri-anna immer noch versuchte, ihre Haare aus den kleinen Fingern zu befreien. »Ich habe dir jemanden mitgebracht.«
Jacopo ließ Briannas Haare los und musterte Farid wenig begeistert. »Er hat kein Schwert«, stellte er fest.
»Ein Schwert! Wer braucht so was?« Fenoglio rümpfte die Nase. »Farid ist ein Feuerspucker.«
Brianna hob den Kopf und sah Farid an. Jacopo aber blickte immer noch wenig begeistert.
»Oh, dieser Stein ist wunderbar!«, murmelte seine Mutter. »Mein alter war nicht halb so gut. Ich kann sie alle erkennen, Brianna, jeden Buchstaben! Hab ich dir mal erzählt, dass meine Mutter mir das Lesen beibrachte, indem sie für jeden Buchstaben ein kleines Lied erfand?« Mit leiser Stimme begann sie zu singen: »Ein brauner Bär beißt ab vom B sich einen guten Bissen... Ich konnte schon damals nicht sonderlich gut sehen, aber sie schrieb sie mir ganz groß auf den Fußboden, sie legte sie aus mit Blütenblättern oder kleinen Steinen. A, B, C, der Spielmann schläft im Klee.«