»Nein«, antwortete Brianna. »Nein, davon habt Ihr nie erzählt.«
Jacopo starrte immer noch Farid an. »Er war auf meinem Fest!«, stellte er fest. »Er hat Fackeln geworfen.«
»Das war nichts, ein Spiel für Kinder.« Farid betrachtete ihn mit so herablassender Miene, als wäre nicht Jacopo, sondern er selbst der Fürstensohn. »Ich kann noch ganz andere Sachen, aber ich glaube, du bist zu klein dafür.«
Meggie sah, wie Brianna ein Lächeln verbarg, während sie die Spange aus ihrem rotblonden Haar löste und es neu zusammensteckte. Sehr anmutig tat sie das. Farid beobachtete sie dabei - und Meggie ertappte sich bei dem Wunsch, ebenso schönes Haar zu haben, auch wenn sie nicht sicher war, dass sie es zuwege bringen würde, sich auf so graziöse Weise eine Spange hineinzustecken. Zum Glück zog Jacopo Farids Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem er mit einem Räuspern die Arme verschränkte. Vermutlich hatte er die Haltung seinem Großvater abgeschaut.
»Zeig es mir, oder ich lass dich auspeitschen.« Die Worte klangen lächerlich, von einer so hellen Stimme geäußert - und doch zugleich furchtbarer als aus dem Mund eines Erwachsenen.
»Oh, tatsächlich.« Farids Gesicht verriet keine Regung. Ganz offenbar hatte er sich einiges von Staubfinger abge-schaut. »Was denkst du, was ich dann mit dir mache?«
Das verschlug Jacopo die Sprache, doch gerade als er sich Unterstützung bei seiner Mutter holen wollte, streckte Farid ihm die Hand hin. »Na gut, komm.«
Jacopo zögerte, und für einen Moment war Meggie versucht, nach Farids Hand zu greifen und ihm in den Hof zu folgen, statt Fenoglio dabei zuzuhören, wie er nach den Spuren eines Toten suchte. Doch Jacopo war schneller. Ganz fest schlossen sich seine kurzen, blassen Finger um Farids braune Hand, und als er sich in der Tür noch einmal umdrehte, war sein Gesicht das eines glücklichen und ganz gewöhnlichen Jungen. »Er zeigt es mir, hast du gehört?«, fragte er stolz, aber seine Mutter blickte nicht einmal auf.
»Oh, dieser Stein ist wunderbar«, flüsterte sie nur. »Wenn er nur nicht rot wäre und ich für jedes Auge einen hätte - «
»Nun, ich arbeite da an einer Lösung, aber ich habe leider noch nicht den geeigneten Glasmacher gefunden.« Fenoglio ließ sich auf einem der Stühle nieder, die einladend zwischen den Bücherpulten standen. Auf den Polstern prangte noch das alte Wappen, der Löwe, der nicht weinte, und bei einigen war das Leder so abgewetzt, dass es deutlich von all den Stunden kündete, die der Speckfürst hier verbracht hatte, bevor der Kummer ihm die Freude an seinen Büchern genommen hatte.
»Glasmacher? Wozu das?« Violante blickte Fenoglio durch den Beryll an. Es sah fast aus, als hätte sie ein Auge aus Feuer.
»Man kann Glas auf eine Weise schleifen, dass es Eure Augen besser sehen lässt, viel besser noch als ein Stein. Aber kein Glasmacher in Ombra versteht, wovon ich rede!«
»Ja, ich weiß, in diesem Ort taugen nur die Steinmetze etwas! Balbulus behauptet, dass es nicht einen anständigen Buchbinder nördlich des Weglosen Waldes gibt.«
Ich wüsste einen guten, dachte Meggie unwillkürlich und wünschte sich Mo für einen Moment so heftig herbei, dass es schmerzte. Die Hässliche aber blickte schon wieder in ihr Buch. »Im Reich meines Vaters gibt es gute Glasmacher«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Er hat einige Fenster auf seiner Burg mit Glas verschließen lassen. Hundert Bauern musste er dafür als Söldner verkaufen.« Sie schien den Preis für mehr als angemessen zu halten.
Ich glaube, ich mag sie nicht, dachte Meggie und begann, von Pult zu Pult zu gehen. Die Einbände der Bücher, die darauf lagen, waren wunderschön, und zu gern hätte sie sich wenigstens eines heimlich unters Kleid geschoben, um es in Fe-noglios Kammer in Ruhe betrachten zu können, doch die Klammern, die die Ketten hielten, waren fest vernietet mit den hölzernen Buchdeckeln.
»Sieh sie dir ruhig an!« Die Hässliche sprach sie so plötzlich an, dass Meggie zusammenfuhr. Violante hielt sich immer noch den roten Stein vors Auge, er ließ Meggie unwillkürlich an die blutroten Juwelen in den Nasenwinkeln des Natternkopfes denken. Seine Tochter hatte mehr von ihrem Vater, als sie selbst vermutlich wusste.
»Danke«, murmelte Meggie - und schlug eines auf. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem Mo ihr erklärt hatte, warum es »aufschlagen« hieß. »Mach es auf, Meggie«, hatte er gesagt und ihr ein Buch hingeschoben, dessen hölzerne Deckel zwei Messingschließen umklammerten. Ratlos hatte sie ihn angesehen, worauf er ihr zugezwinkert und mit der Faust so fest auf die Kante zwischen den Schließen geschlagen hatte, dass sie aufschnappten wie kleine Mäuler und das Buch sich öffnete.
Das Buch, das Meggie in der Bibliothek des Speckfürsten aufschlug, zeigte keine Spur von Alter, wie es das andere getan hatte. Kein Schimmelfleck verunzierte das Pergament, kein Käfer, kein Bücherwurm hatte daran gefressen, wie sie es von den Handschriften kannte, die Mo restaurierte. Die Jahre gingen nicht gnädig um mit Pergament und Papier, ein Buch hatte allzu viele Feinde, und die Zeit ließ seinen Körper ebenso welken wie den eines Menschen. »Woran man sieht, Meggie«, sagte Mo immer, »dass ein Buch ein lebendes Ding ist!« Wenn sie ihm doch dieses nur hätte zeigen können!
Mit größter Vorsicht blätterte sie die Seiten um - und war doch nicht ganz bei der Sache, denn der Wind wehte Farids Stimme herein, wie ein Mitbringsel aus einer anderen Welt. Meggie lauschte nach draußen, während sie die Schließen des Buches wieder zuklemmte. Fenoglio und Violante sprachen immer noch über schlechte Buchbinder, beide beachteten sie nicht und Meggie trat an eins der verhängten Fenster und lugte durch den Vorhang. Ihr Blick fiel in einen ummauerten Garten, auf Beete, bedeckt mit Blüten wie mit buntem Schaum, und Farid, der zwischen ihnen stand und Flammen an seinen nackten Armen lecken ließ, genau wie Staubfinger es getan hatte, als Meggie ihm das erste Mal beim Feuerspucken zugesehen hatte, damals in Elinors Garten. Bevor er sie verriet.
Jacopo lachte ausgelassen. Er klatschte - und stolperte erschrocken zurück, als Farid die Fackeln wie Feuerräder wirbeln ließ.
Meggie musste lächeln. Ja, Staubfinger hatte ihm wirklich sehr viel beigebracht, auch wenn Farid das Feuer noch nicht ganz so hoch spuckte wie sein Lehrmeister.
»Bücher? Nein, ich sag es Euch doch, Cosimo kam nie her!« Violantes Stimme klang plötzlich merklich schärfer und Meggie wandte sich um. »Er fand nichts an Büchern, er liebte Hunde, gute Stiefel, ein schnelles Pferd. an manchen Tagen liebte er sogar seinen Sohn. Aber ich will nicht über ihn reden.«
Von draußen klang erneut Gelächter herauf. Auch Brianna trat ans Fenster. »Der Junge ist ein sehr guter Feuerspucker«, sagte sie.
»Tatsächlich?« Ihre Herrin warf ihr einen kurzsichtigen Blick zu. »Ich dachte, du magst keine Feuerspucker. Du sagst doch immer, sie taugen nichts.«
»Dieser ist gut. Viel besser als der Rußvogel.« Briannas Stimme klang belegt. »Er ist mir schon auf dem Fest aufgefallen.«
»Violante!« Fenoglios Stimme klang ungeduldig. »Könnten wir den Feuer spuckenden Jungen für einen Moment vergessen? Cosimo mochte keine Bücher, nun gut, so etwas kommt vor, aber etwas mehr werdet Ihr mir doch wohl über ihn erzählen können!«
»Wozu?« Die Hässliche hielt sich erneut den Beryll vors Auge. »Lasst Cosimo endlich ruhen, er ist tot! Die Toten wollen nicht bleiben. Warum versteht das keiner? Und falls Ihr ein Geheimnis über ihn hören wollt - er hatte keins! Er konnte stundenlang über Waffen reden. Er mochte Feuerspucker und Messerwerfer und wilde Ritte durch die Nacht. Er ließ sich zeigen, wie man ein Schwert schmiedet, und focht stundenlang unten auf dem Hof mit den Wachen, bis er jede Finte, die sie kannten, ebenso gut beherrschte wie sie, doch bei den Liedern der Sänger begann er nach der ersten Strophe zu gähnen. Er hätte die Lieder nicht gemocht, die Ihr über ihn geschrieben habt. Vielleicht hätten die Räuberlieder ihm gefallen, aber dass Worte wie Musik sein können, dass sie das Herz schneller schlagen lassen. das hörte er einfach nicht! Selbst eine Hinrichtung interessierte ihn mehr als Worte - obwohl er sie nie genossen hat wie mein Vater.«