Elinor presste die Hände vor den Mund. Da waren sie, quollen hervor hinter dem Sessel, sprangen über die Bücherstapel, tanzten auf den aufgeschlagenen Seiten mit schmutzigen Hufen. Der Hund sprang auf und bellte sie an.
»Hören Sie auf!«, schrie Elinor Orpheus an. »Hören Sie sofort auf!«
Mit einem triumphierenden Lächeln klappte er das Buch zu.
»Scheuch sie raus in den Garten!«, befahl er dem wie versteinert dastehenden Zucker. Verwirrt tappte er zur Tür, öffnete sie - und ließ die ganze Schar an sich vorbeitanzen, fiedelnd und kreischend, bellend, blökend, Elinors Flur hinunter, vorbei an ihrem Schlafzimmer, bis der Lärm allmählich verklang.
»Niemand«, wiederholte Orpheus, und nicht die Spur eines Lächelns war mehr auf seinem runden Gesicht zu entdecken, »niemand erklärt Orpheus etwas über die Kunst des Lesens. Haben Sie es bemerkt? Es ist niemand verschwunden! Vielleicht ein paar Bücherwürmer, falls es so etwas in Ihrer Bibliothek gibt, vielleicht ein paar Fliegen.«
»Vielleicht ein paar Autofahrer unten auf der Straße«, fügte Elinor mit heiserer Stimme hinzu, aber leider war es nicht zu überhören, dass sie beeindruckt war.
»Vielleicht!«, sagte Orpheus und zuckte lässig die runden Schultern. »An meiner Meisterschaft würde das nichts ändern, oder? Und nun hoffe ich, dass Sie etwas von der Kunst des Kochens verstehen, denn ich bin das, was Zucker zusammenrührt, gründlich leid. Und ich bin hungrig. Ich werde immer hungrig, wenn ich gelesen habe.«
»Kochen?« Elinor erstickte fast an ihrer Wut. »Ich soll Ihre Köchin spielen in meinem eigenen Haus?«
»Nun, aber sicher. Machen Sie sich nützlich. Oder wollen Sie, dass Zucker auf die Idee kommt, dass Sie und unser stotternder Freund ganz überflüssig sind? Er ist ohnehin schon verärgert, weil er bislang nichts Stehlenswertes in Ihrem Haus gefunden hat. Nein, wir sollten ihn wirklich nicht auf dumme Gedanken bringen, nicht wahr?«
Elinor holte tief Atem und versuchte, das Zittern ihrer Knie zu übersehen. »Nein. Nein, das wollen wir nicht«, sagte sie, drehte sich um - und ging in die Küche.
Der Falsche
»Und sie legte ihm das Heilkraut in den Mund - er schlief gleich ein. Sie deckte ihn behutsam zu. Er schlief den ganzen Tag hindurch.«
Dieter Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach
Die Höhle war leer bis auf Resa und Mo, als sie kamen, zwei Frauen und vier Männer. Zwei der Männer hatten mit Wolkentänzer am Feuer gesessen: Rußvogel, der Feuerspucker, und der Zweifinger. Sein Gesicht sah bei Tageslicht nicht freundlicher aus, und auch die Übrigen blickten so feindselig drein, dass Resa unwillkürlich näher an Mo heranrückte.
Nur der Rußvogel schien verlegen.
Mo schlief, den unruhigen fiebrigen Schlaf, den er nun schon mehr als einen Tag lang schlief und der die Nessel sorgenvoll den Kopf schütteln ließ. Die sechs blieben nur wenige Schritte entfernt von ihm stehen. Sie versperrten Resa den Blick auf das Tageslicht, das von draußen hereinfiel.
Eine der Frauen trat vor die anderen. Sie war nicht sonderlich alt, aber ihre Finger waren verkrümmt wie die Klauen eines Vogels. »Er muss fort!«, sagte sie. »Heute noch. Er ist keiner von uns, ebenso wenig wie du.«
»Wie meinst du das?« Resas Stimme zitterte, sosehr sie sich auch bemühte, ruhig zu klingen. »Er kann nicht fort. Er ist noch zu schwach.«
Wenn doch nur die Nessel da gewesen wäre! Aber sie war fort, hatte irgendetwas von kranken Kindern gemurmelt - und einem Kraut, dessen Wurzel das Fieber vielleicht vertreiben würde. Vor der Nessel hätten die sechs Angst gehabt, Angst, Respekt, Scheu, während sie selbst für die Spielleute nur eine Fremde war, irgendeine verzweifelte Fremde mit einem todkranken Mann - auch wenn keiner hier ahnte, wie fremd sie in dieser Welt waren.
»Die Kinder. du musst uns verstehen!« Die andere Frau war noch sehr jung, und sie war schwanger. Schützend hatte sie eine Hand auf den Bauch gelegt. »Einer wie er bringt unsere Kinder in Gefahr, und Martha hat Recht, ihr gehört nicht mal zu uns. Dies ist der einzige Platz, an dem man uns bleiben lässt. Keiner jagt uns hier fort, doch wenn sie hören, dass der Eichelhäher hier ist, ist das vorbei. Sie werden sagen, dass wir ihn versteckt haben.«
»Aber er ist nicht der Eichelhäher! Ich hab es euch doch schon gesagt. Und wer sind >sie<?«
Mo flüsterte etwas im Fieber, seine Hand klammerte sich an Resas Arm.
Beruhigend strich sie ihm über die Stirn, zwang ihm einen Schluck von dem Sud über die Lippen, den die Nessel angerührt hatte. Ihre Besucher beobachteten sie schweigend.
»Als ob du das nicht wüsstest!«, sagte einer der Männer, ein großer hagerer Mann, den ein trockener Husten schüttelte. »Der Natternkopf sucht nach ihm. Er wird die Gepanzerten herschicken. Er wird uns alle aufhängen lassen, weil wir ihn hier verstecken.«
»Ich sage es euch noch mal!« Resa griff nach Mos Hand, hielt sie ganz fest. »Er ist kein Räuber oder sonst jemand aus euren Geschichten! Wir sind erst seit ein paar Tagen hier! Mein Mann bindet Bücher, das ist sein Handwerk, nichts sonst!«
Wie sie sie ansahen!
»Eine schlechtere Lüge hab ich selten gehört!« Der Zweifinger verzog den Mund. Er hatte eine hässliche Stimme. Den flickenbunten Kleidern nach zu urteilen war er einer von denen, die auf den Märkten Komödie spielten, laut und derb, bis die Zuschauer sich allen Kummer vom Herzen gelacht hatten. »Was sollte ein Buchbinder mitten im Weglosen Wald bei Capricorns alter Festung suchen? Niemand geht freiwillig dorthin, wegen der Weißen Frauen und all der anderen Scheusale, die sich zwischen den Ruinen herumtreiben. Und Morto-la, was sollte die mit einem Buchbinder zu schaffen haben? Warum sollte sie auf ihn schießen, mit irgendeiner Hexenwaffe, von der noch nie jemand gehört hat?«
Die anderen nickten zustimmend - und machten noch einen Schritt auf Mo zu. Was sollte sie tun? Was konnte sie sagen? Was nützte es, eine Stimme zu haben, wenn niemand zuhörte? »Mach dir nichts draus, dass du nicht sprechen kannst«, hatte Staubfinger oft zu ihr gesagt. »Die Leute hören eh nicht zu, oder?«
Vielleicht konnte sie um Hilfe rufen, aber wer sollte kommen? Wolkentänzer war mit der Nessel aufgebrochen, ganz früh am Morgen, die Blätter hatten noch rot geleuchtet von der aufgehenden Sonne, und die Frauen, die Resa zu essen brachten und sie manchmal an Mos Seite ablösten, damit sie für ein paar Stunden schlafen konnte - sie waren am nahen Fluss, um Wäsche zu waschen, mitsamt der Kinder. Dort draußen waren nur noch ein paar alte Männer, Männer, die hergekommen waren, weil sie die Menschen leid waren und auf den Tod warteten. Sie würden ihr kaum helfen.
»Wir werden ihn nicht an den Natternkopf ausliefern! Wir bringen ihn nur zurück, dorthin, wo die Nessel euch gefunden hat. Zu der verfluchten Festung.« Das war wieder der mit dem Husten.
Ein Rabe hockte auf seiner Schulter. Resa kannte solche Raben, aus der Zeit, die sie auf den Märkten gesessen hatte, Urkunden und Bittbriefe schreibend - ihre Besitzer richteten sie ab, ein paar zusätzliche Münzen zu stehlen, während sie ihre Kunststücke vorführten.
»In den Liedern heißt es, der Eichelhäher schützt das Bunte Volk«, fuhr sein Besitzer fort. »Und die, die er getötet haben soll, haben unsere Frauen und Kinder bedroht. Wir wissen das zu schätzen und haben alle schon die Lieder über ihn gesungen, aber aufknüpfen lassen werden wir uns nicht für ihn.«
Sie hatten es längst entschieden. Sie würden Mo fortbringen. Resa wollte sie anschreien, aber sie hatte einfach keine Kraft mehr zum Schreien. »Es wird ihn töten, wenn ihr ihn zurückbringt!« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.