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Den Durst will ich sehen in den Silben, das Feuer berühren im Klang.

Das Dunkle will ich spüren im Aufschrei. Worte will ich, so rauh wie unberührte Steine.

Pablo Neruda, Das Wort

Die Weißen Frauen waren immer noch da. Resa schien sie nicht mehr zu sehen, aber Mo spürte sie, wie Schatten im Sonnenlicht. Er sagte ihr nichts davon. Sie sah so müde aus. Das Einzige, was sie noch aufrecht hielt, war die Hoffnung, dass Staubfinger bald kommen würde - mit Meggie.

»Du wirst sehen, er findet sie.« Immer wieder flüsterte Resa es ihm zu, wenn das Fieber ihn schüttelte. Wie konnte sie nur so sicher sein? Als hätte Staubfinger sie nie im Stich gelassen, nie das Buch gestohlen, sie nie verraten. Meggie. Der Wunsch, sie noch einmal zu sehen, war immer noch stärker als das Locken und Flüstern der Weißen Frauen, stärker als der Schmerz in seiner Brust. Und wer konnte es sagen, vielleicht nahm diese verfluchte Geschichte ja doch noch eine Wendung zum Guten? Obwohl Mo sich nur allzu gut an Fenoglios Vorliebe für schlimme Wendungen erinnerte.

»Erzähl mir, wie es draußen aussieht«, flüsterte er Resa manchmal zu. »Es ist zu dumm, in einer anderen Welt zu stecken und nichts von ihr zu sehen als eine Höhle.« Und Resa beschrieb ihm, was er nicht sehen konnte - die Bäume, so viel größer und älter als alle Bäume, die er je erblickt hatte, die Feen, wie Mückenschwärme in den Zweigen, die Glasmänner im hohen Farn und die Schrecken der Nacht, die keinen Namen hatten. Einmal fing sie für ihn eine Fee - Staubfinger hatte ihr erzählt, wie das ging - und brachte sie ihm. Sie hielt das kleine Geschöpf zwischen den hohlen Händen, hielt sie ihm dicht ans Ohr, damit er die zirpende, aufgebrachte Stimme hören konnte.

Es schien alles so wirklich, auch wenn er sich noch so oft sagte, dass alles nur aus Tinte und Papier bestand. Der harte Boden, auf dem er lag, das trockene Laub, das raschelte, wenn er sich im Fieber hin und her warf, der heiße Atem des Bären - und der Schwarze Prinz, dem er zuletzt auf den Seiten eines Buches begegnet war. Nun saß er manchmal neben ihm, kühlte ihm die Stirn, sprach leise mit Resa. Oder war das alles doch nur ein Fiebertraum?

Auch der Tod fühlte sich echt an in dieser Tintenwelt. Sehr echt. Es war seltsam, ihm hier zu begegnen, in einer Welt, die einem Buch entstammte. Doch auch wenn das Sterben nur aus Worten bestand, auch wenn es vielleicht nichts war als ein Buchstabenspiel - sein Körper empfand es als echt. Sein Herz spürte die Angst, sein Fleisch den Schmerz. Und die Weißen Frauen gingen nicht fort, auch wenn Resa sie nicht sah. Mo spürte sie neben sich, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag und jede Nacht. Fenoglios Todesengel. Ob sie das Sterben leichter machten als in der Welt, aus der er stammte? Nein. Nichts konnte es leichter machen. Man verlor, was man liebte. Das war der Tod. Hier wie dort.

Draußen war es hell, als Mo den ersten Schrei hörte. Zuerst dachte er, das Fieber griffe wieder nach ihm. Doch dann sah er an Resas Gesicht, dass auch sie es hörte: das Klirren von Waffen und Schreie, Angstschreie.

Todesschreie. Mo versuchte, sich aufzurichten, doch der Schmerz sprang ihn an wie ein Tier, das ihm die Zähne in die Brust schlug. Er sah den Prinzen mit gezogenem Schwert vor der Höhle stehen, sah, wie Resa aufsprang. Das Fieber ließ ihr Gesicht verschwimmen, aber dafür sah Mo plötzlich ein anderes Bild: Er sah Meggie in Fenoglios Küche sitzen und den alten Mann entsetzt anstarren, während er ihr voll Stolz erzählte, wie gut er Staubfinger hatte sterben lassen. O ja, Fenoglio liebte traurige Szenen. Und vielleicht hatte er gerade eine neue geschrieben.

»Resa!« Mo verfluchte seine fieberschwere Zunge. »Resa, versteck dich, versteck dich irgendwo im Wald.«

Aber sie blieb bei ihm, wie sie es immer getan hatte - bis auf den einen Tag, an dem seine eigene Stimme sie fortgeschickt hatte.

Blutiges Stroh

Kobolde gruben in der Erde,

Eiben sangen Lieder in den Bäumen:

Das waren die ganz offensichtlichen Wunder des Lesens, doch hinter ihnen lag das eigentliche Wunder, dass in Geschichten die Wörter den Dingen befehlen konnten, zu sein.

Francis Spufford, The Child That Books Built

Mit Farid hatte Meggie im Weglosen Wald oft Angst gehabt, doch mit Staubfinger war das anders. Es war, als rauschten die Bäume lauter, wenn er vorbeiging, als streckten die Büsche die Zweige nach ihm aus. Feen ließen sich auf seinem Rucksack nieder wie Falter auf einer Blüte, zupften ihn am Haar, bis er sie fortscheuchte, sprachen mit ihm. Auch andere Wesen erschienen und verschwanden, Wesen, deren Namen Meggie weder aus Resas Geschichten noch sonst woher kannte, manche nicht mehr als ein Paar Augen zwischen den Bäumen.

Staubfinger führte sie so zielstrebig, als sähe er den Weg wie ein rotes Band vor sich. Er machte nicht einmal Rast, führte sie immer nur weiter, bergauf, bergab, Stunde um Stunde tiefer in den Wald hinein. Fort von den Menschen. Als er endlich stehen blieb, zitterten Meggie die Beine vor Müdigkeit. Es musste spät am Nachmittag sein. Staubfinger strich einem Busch über die abgeknickten Zweige, bückte sich, betrachtete den feuchten Boden und hob eine Hand voll zertretener Beeren auf.

»Was ist?«, fragte Farid besorgt.

»Zu viele Füße. Und vor allem zu viele Stiefel.«

Staubfinger fluchte leise und begann schneller zu gehen. Zu viele Stiefel. Meggie begriff, was er meinte, als das Geheime Lager zwischen den Bäumen auftauchte. Sie sah niedergerissene Zelte, eine zertrampelte Feuerstelle.

»Ihr bleibt hier!«, befahl Staubfinger, und diesmal gehorchten sie. Voll Angst beobachteten sie, wie er aus dem Schutz der Bäume trat, sich umsah, Zeltbahnen hochhob, in die kalte Asche griff - und zwei Körper umdrehte, die reglos neben der Feuerstelle lagen. Meggie wollte ihm nach, als sie die Toten sah, aber Farid hielt sie fest. Als Staubfinger in einer Höhle verschwand und mit blassem Gesicht wieder herauskam, riss Meggie sich los und lief auf ihn zu.

»Wo sind meine Eltern? Sind sie dadrin?« Sie fuhr zurück, als ihr Fuß gegen einen weiteren Toten stieß.

»Nein, es ist niemand mehr da. Aber das hier habe ich gefunden.« Staubfinger hielt ihr einen Streifen Stoff hin.

Resa hatte ein Kleid mit demselben Muster. Der Stoff war blutverschmiert.

»Du erkennst es?«

Meggie nickte.

»Dann waren deine Eltern also wirklich hier. Das Blut stammt vermutlich von deinem Vater.« Staubfinger fuhr sich übers Gesicht. »Vielleicht ist jemand entkommen. Jemand, der uns erzählen kann, was hier passiert ist. Ich werd mich mal umsehen. Farid!«

Farid sprang an seine Seite. Meggie wollte sich an den beiden vorbeidrängen, aber Staubfinger hielt sie zurück. »Meggie, hör zu!«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist gut, dass deine Eltern nicht hier sind. Vermutlich heißt das, dass sie noch leben. In der Höhle ist ein Lager, dort hat deine Mutter vermutlich deinen Vater gepflegt. Außerdem habe ich Bärenspuren entdeckt, was heißt, dass der Schwarze Prinz hier war. Vielleicht galt das alles hier ihm, obwohl ich nicht weiß, warum sie dann all die andern mitgenommen haben. ich versteh es nicht.«

Er wies Meggie an, in der Höhle zu warten, bevor er mit Farid aufbrach, um nach Überlebenden zu suchen. Der Eingang war so hoch und breit, dass ein Mann aufrecht darin stehen konnte. Die Höhle, die sich dahinter verbarg, reichte tief in den Berg hinein. Der Boden war mit Laub bestreut, Decken und Lager aus Stroh reihten sich aneinander, manche gerade groß genug für ein Kind. Es war nicht schwer zu erkennen, wo Mo gelegen hatte. Das Stroh war dort blutig, ebenso wie die Decke, die daneben lag. Eine Schüssel mit Wasser, ein Becher aus Holz, umgestoßen, und ein Strauß getrockneter Blumen. Meggie hob sie auf und strich mit den Fingern über die Blüten. Sie kniete sich hin und starrte das blutige Stroh an. Fenoglios Pergament drückte gegen ihre Brust, aber Mo war fort. Wie sollten Fenoglios Worte ihm da helfen?