Nutzlos!, flüsterte es in Meggie. Sie werden nutzlos sein! Mo ist fort, weit fort, vermutlich lebt er nicht mal mehr. Sei still!, fuhr Meggie die Stimme in ihrem Inneren an. Ich will nichts hören. Es gibt nichts, was ich sonst tun kann, gar nichts! Sie griff nach der blutverschmierten Decke, legte das Pergament darauf - und fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. Vor der Höhle stand immer noch das Mädchen, darauf wartend, dass seine Mutter zurückkam.
»Lies, Meggie!« Farid nickte ihr aufmunternd zu.
Und sie las, die Finger in die Decke mit Mos getrocknetem Blut gekrallt. »Mortimer fühlte den Schmerz...« Sie glaubte ihn selbst zu spüren, in jedem Buchstaben auf ihrer Zunge, in jedem Wort, das ihr über die Lippen kam. »Die Wunde brannte. Sie brannte wie der Hass in Mortolas Augen, als sie auf ihn geschossen hatte. Vielleicht war ihr Hass es, der das Leben aus ihm heraussaugte, der ihn schwächer und schwächer werden ließ. Er spürte sein eigenes Blut feucht und warm auf der Haut. Er spürte, wie der Tod nach ihm griff. Doch mit einem Mal war da noch etwas anderes:
Worte. Worte, die den Schmerz linderten, ihm die Stirn kühlten und von Liebe sprachen, von nichts als Liebe. Sie machten das Atmen wieder leichter und ließen heilen, was den Tod hereingelassen hatte. Er spürte ihren Klang auf der Haut und tief im Herzen. Immer lauter und deutlicher drangen sie durch die Dunkelheit, die ihn zu verschlingen drohte, und plötzlich erkannte er die Stimme, die die Worte sprach: Es war die Stimme seiner Tochter- und die Weißen Frauen zogen die bleichen Hände zurück, als hätten sie sich verbrannt an ihrer Liebe.«
Meggie presste die Finger vors Gesicht. Das Pergament rollte sich auf ihrem Schoß zusammen, als hätte es seine Schuldigkeit getan. Stroh stach ihr durchs Kleid, wie damals, in dem Verschlag, in den Capricorn sie und Mo hatte sperren lassen. Sie spürte, wie ihr jemand übers Haar strich, und für einen Augenblick, einen verrückten Augenblick dachte sie, Fenoglios Worte hätten Mo zurückgebracht, zurück in die Höhle, gesund und unverletzt, und alles wäre wieder gut. Doch als sie den Kopf hob, war es nur Farid, der neben ihr stand.
»Das war wunderschön«, sagte er. »Bestimmt hat es geholfen. Du wirst sehen.«
Doch Meggie schüttelte den Kopf. »Nein!«, flüsterte sie. »Nein. Das waren nur wunderschöne Worte, aber mein Vater ist nicht aus Fenoglios Wörtern gemacht, sondern aus Fleisch und Blut.«
»Und? Was heißt das schon?« Farid zog ihr die Hände vom verweinten Gesicht. »Vielleicht ist ja alles aus Worten. Sieh mich doch an. Kneif mich. Bin ich etwa aus Papier?«
Nein, das war er nicht. Und Meggie musste lächeln, als er sie küsste, obwohl sie immer noch weinte.
Staubfinger war noch nicht lange fort, als sie Schritte zwischen den Bäumen hörten. Farid hatte Feuer gemacht, wie Staubfinger es ihm geraten hatte, und Meggie saß dicht an seiner Seite, den Kopf des kleinen Mädchens auf ihrem Schoß.
Die Nessel sagte kein Wort, als sie aus der Dunkelheit auftauchte und das zerstörte Lager sah. Schweigend ging sie von einem Toten zum anderen, suchte nach Leben, wo keins mehr war, während der Wolkentänzer mit starrem Gesicht dem lauschte, was Staubfinger ihm ausrichten ließ. Farid begriff wohl erst, dass Meggie ebenso wenig wie er vorhatte, nach Ombra zurückzukehren, als sie Wolkentänzer bat, nicht nur Roxane und den Spielleuten, sondern auch Fenoglio eine Nachricht zu überbringen. Seinem ausdruckslosen Gesicht war nicht anzusehen, ob er sich über ihren Entschluss ärgerte oder freute.
»Die Nachricht für Fenoglio hab ich aufgeschrieben!« Meggie hatte dafür schweren Herzens eine Seite aus dem Notizbuch getrennt, das Mo ihr geschenkt hatte. Andererseits, wozu sollte sie es besser verwenden als dazu, ihn zu retten. Wenn sie ihn noch retten konnte. »Du findest Fenoglio in der Schustergasse, in Minervas Haus. Und es ist sehr wichtig, dass nur er die Nachricht liest.«
»Ich kenne den Tintenweber!« Wolkentänzer beobachtete, wie die Nessel einem weiteren Toten den zerlumpten Mantel übers Gesicht zog. Dann starrte er mit gerunzelter Stirn auf das beschriebene Blatt Papier. »Es gab schon Boten, die für die Buchstaben, die sie herumtrugen, aufgehängt wurden. Ich hoffe, die hier sind nicht von der Sorte? Sag es mir nicht!«, wehrte er ab, als Meggie antworten wollte. »Eigentlich lass ich mir die Worte immer sagen, die ich überbringe, doch bei denen hier hab ich das Gefühl, dass ich sie besser nicht kenne.«
»Was soll sie schon geschrieben haben?«, sagte die Nessel bitter. »Vermutlich hat sie sich bei dem Alten dafür bedankt, dass seine Lieder ihren Vater an den Galgen bringen werden! Oder soll er sein Totenlied schreiben, das letzte Lied des Eichelhähers? Ich habe das Unglück gerochen in dem Moment, in dem ich die Narbe an seinem Arm sah. Hab immer gedacht, der Eichelhäher wäre ein Hirngespinst wie all die edlen Prinzen und Prinzessinnen, von denen die Lieder sonst so handeln. Na, da hast du dich wohl geirrt, Nessel!, sagte ich mir, und du bist sicher nicht die Erste, die die Narbe bemerkt. Aber der Tintenweber musste sie ja ganz genau beschreiben. Verflucht sei der alte Dummkopf mitsamt seinen einfältigen Liedern! Es sind schon einige aufgehängt worden, weil sie für den Eichelhäher gehalten wurden, aber nun hat der Natternkopf wohl den Richtigen gefangen, und das Heldenspiel hat ein Ende. Die Schwachen beschützen, die Starken berauben. ja, prächtig hört sich das an, aber Helden sind nur in Liedern unsterblich, und auch dein Vater wird nur zu bald begreifen, dass eine Maske nicht vor dem Tod schützt.«
Meggie saß nur da und starrte die alte Frau an. Wovon redete sie?
»Was guckst du mich so entgeistert an?«, fuhr die Nessel sie an. »Glaubst du, der Natternkopf hat seine Männer ein paar alter Spielmänner und schwangerer Frauen wegen hergeschickt oder wegen des Schwarzen Prinzen? Unsinn. Der hat sich noch nie vor der Natter versteckt. Nein. Jemand hat sich auf die Nachtburg geschlichen und dem Natternkopf ins Ohr gezwitschert, dass der Eichelhäher verwundet im Geheimen Lager der Spielleute liegt und man ihn nur einsammeln muss, mitsamt den armen Gauklern, die ihn versteckt haben. Das hat jemand getan, der das Lager kennt und bestimmt mit gutem Silber für seinen Verrat bezahlt worden ist. Der Natternkopf wird ein großes Spektakel aus der Hinrichtung machen, der Tintenweber wird ein rührendes Lied darüber schreiben, und vielleicht wird sich schon bald ein anderer die Federmaske aufsetzen, denn die Lieder werden sie weitersingen, auch wenn dein Vater längst tot und hinter der Nachtburg verscharrt ist.«
Meggie hörte, wie ihr das eigene Blut durch den Kopf rauschte. »Von was für einer Narbe redest du?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Na, von der Narbe an seinem linken Arm, du wirst sie wohl kennen! In den Liedern heißt es, die Hunde des Natternkopfes hätten den Eichelhäher dort gebissen, als er seine weißen Hirsche jagte.«
Fenoglio. Was hatte er getan?
Meggie presste sich die Hand auf den Mund. Sie hörte Fenoglios Stimme, auf der Wendeltreppe zu Balbulus’ Werkstatt. Du musst wissen, ich nehme mir gern echte Menschen als Vorbild für meine Figuren. Nicht jeder Schriftsteller tut das, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sie einfach lebendiger macht. Gesichtsausdrücke, Gesten, eine Körperhaltung, die Stimme, vielleicht ein Muttermal oder eine Narbe -ich stehle hier, ich stehle dort, und schon beginnen sie zu atmen, bis jeder, der von ihnen hört oder liest, glaubt, sie anfassen zu können! Für den Eichelhäher kamen nicht viele in Frage.
Mo. Fenoglio hatte ihren Vater zum Vorbild genommen. Meggie starrte auf das schlafende Mädchen. So hatte sie auch oft geschlafen, den Kopf in Mos Schoß.