Der Bote wartete auf der Gasse vor dem Haus, mit wichtiger Miene und Falten der Ungeduld auf der Stirn. Er trug den schwarzen Tränenumhang, als säße immer noch der seufzende Fürst auf dem Thron.
Ach was. Alles wird anders werden!, dachte Fenoglio. Ganz gewiss! Von nun an werde ich diese Geschichte wieder erzählen und nicht meine Figuren. Sein Führer blickte sich nicht einmal zu ihm um, während er ihm durch die Gassen nachhastete. Mürrischer Klotz!, dachte Fenoglio. Aber vermutlich entstammte selbst er seiner Feder, einer der vielen Namenlosen, mit denen er diese Welt bevölkert hatte, damit seine Hauptfiguren nicht allzu einsam darin herumstapften.
Auf dem Äußeren Burghof lungerte eine Schar Gepanzerter vor den Ställen herum. Fenoglio fragte sich irritiert, was sie dort zu suchen hatten. Oben zwischen den Zinnen gingen Co-simos Männer auf und ab, wie eine Meute Hunde, die ein Rudel Wölfe bewachen sollten. Feindselig starrten die Gepanzerten zu ihnen hinauf. Ja, starrt nur!, dachte Fenoglio. Für euren finsteren Herrn wird es keine Hauptrolle in meiner Geschichte geben, nur einen guten Abgang, wie es sich für einen anständigen Bösewicht gehört. Vielleicht würde er irgendwann einen neuen Schurken erfinden, Geschichten wurden schnell langweilig ohne einen anständigen Bösewicht, aber um den ins Leben zu rufen, würde Meggie ihm wohl kaum ihre Stimme leihen.
Die Wächter vor dem Tor zum Inneren Hof hoben die Lanzen.
»Was heißt das?«
Die Stimme des Natternkopfs schallte Fenoglio schon entgegen, als er den Inneren Hof kaum betreten hatte. »Willst du damit sagen, dass er mich weiter warten lässt, du verlaustes Pelzgesicht?«
Eine leisere Stimme antwortete, eingeschüchtert, ängstlich. Fenoglio sah Tullio, den zwergengroßen Diener des Speckfürsten, vor dem Natternkopf stehen. Er reichte dem Fürsten gerade bis zum silberbeschlagenen Gürtel. Zwei Wachen des Speckfürsten standen hinter ihm, doch hinter dem Natternkopf standen mindestens zwanzig schwer bewaffnete Männer, ein beunruhigender Anblick, auch wenn der Brandfuchs nicht dabei und selbst vom Pfeifer nichts zu entdecken war.
»Eure Tochter wird Euch empfangen.« Tullios Stimme bebte wie ein Blatt im Wind.
»Meine Tochter? Wenn mich nach Violantes Gesellschaft verlangt, lasse ich sie auf meine Burg kommen. Ich will endlich diesen Toten sehen, der zu den Lebenden zurückgekehrt ist! Und deshalb bringst du mich jetzt auf der Stelle zu Cosimo, du stinkender Koboldbastard!«
Der bedauernswerte Tullio begann zu zittern. »Der Fürst von Ombra«, begann er erneut mit dünner Stimme, »wird Euch nicht empfangen!«
Die Worte ließen Fenoglio zurückstolpern wie Schläge vor die Brust - mitten hinein in den nächsten Rosenbusch, der die Dornen in seine frisch geschneiderte Tunika hakte. Was bedeutete das nun wieder? Nicht empfangen? War das nach seinem Plan?
Der Natternkopf schob die Lippen vor, als hätte er etwas übel Schmeckendes auf der Zunge. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor, dunkel auf der fleckig roten Haut. Er starrte auf Tullio hinab mit seinem Echsenblick. Dann nahm er dem nächsten Soldaten die Armbrust aus der Hand und richtete sie, während Tullio sich wie ein erschrockenes Kaninchen zusammenduckte, auf einen der Vögel am Himmel. Es war ein sicherer Schuss. Der Vogel fiel dem Natternkopf direkt vor die Füße, die gelben Federn rot vom Blut. Ein Goldspötter, Fenoglio hatte sie eigens für die Burg des Speckfürsten erfunden. Der Natternkopf bückte sich und zog den Pfeil aus der winzigen Brust.
»Da, nimm!«, sagte er und drückte Tullio den toten Vogel in die Hand. »Und richte deinem Herrn aus, dass er seinen Verstand ganz offenbar im Reich der Toten gelassen hat. Für diesmal soll das als Entschuldigung gelten, doch sollte er dich bei meinem nächsten Besuch mit einer ähnlich unverschämten Botschaft zu mir schicken, so bekommt er keinen Vogel, sondern dich mit einem Pfeil in der Brust zurück. Wirst du das ausrichten?«
Tullio starrte auf den blutigen Vogel in seiner Hand - und nickte.
Der Natternkopf aber drehte sich abrupt um und winkte seinen Männern, ihm zu folgen. Fenoglios Führer senkte furchtsam den Kopf, als sie an ihm vorbeistiefelten. Sieh ihn an!, dachte Fenoglio, als der Natternkopf so dicht an ihm vorbeischritt, dass er seinen Schweiß zu riechen glaubte. Du hast ihn erfunden! Aber stattdessen zog er den Kopf zwischen die Schultern wie eine Schildkröte, die Gefahr witterte, und rührte sich nicht, bis das Tor sich hinter dem letzten Gepanzerten geschlossen hatte.
Vor dem Portal, das dem Natternkopf verschlossen geblieben war, wartete immer noch Tullio und starrte auf den toten Vogel in seiner Hand. »Soll ich ihn Cosimo zeigen?«, fragte er mit verstörtem Gesicht, als sie auf ihn zutraten.
»Lass ihn dir in der Küche braten, wenn du willst!«, fuhr ihn Fenoglios Führer an. »Aber geh aus dem Weg.«
Der Thronsaal hatte sich nicht verändert seit Fenoglios letztem Besuch. Vor den Fenstern hingen immer noch schwarze Tücher. Kerzen spendeten das einzige Licht und die Standbilder blickten aus leeren Augen jedem entgegen, der auf den Thronsessel zuschritt. Dort aber saß nun ihr atmendes Vorbild, so ähnlich seinen steinernen Abbildern, dass Fenoglio der dunkle Saal wie ein Spiegelkabinett erschien.
Cosimo war allein. Weder die Hässliche noch sein Sohn waren zu entdecken. Nur sechs Wachen standen im Hintergrund, fast unsichtbar in dem dämmrigen Licht.
Fenoglio blieb in gebührendem Abstand vor den Thronstufen stehen und verbeugte sich. Er war zwar der Ansicht, dass niemand in dieser oder einer anderen Welt es verdiente, dass er, Fenoglio, vor ihm den Nacken beugte, schon gar nicht die, die er mit seinen Worten erst ins Leben gerufen hatte, aber er musste die Spielregeln seiner eigenen Welt befolgen, und eine Verbeugung vor denen, die sich in Samt und Seide kleideten, war hier ebenso selbstverständlich wie ein Händedruck in seiner alten Welt.
Los, krümm dich schon, alter Mann, auch wenn der Rücken dabei schmerzt!, dachte er, während er den Kopf noch etwas demütiger senkte. Du hast es selbst so eingerichtet.
Cosimo musterte ihn, als wäre er nicht sicher, ob er sich an sein Gesicht erinnerte. Er war in Weiß gekleidet, ganz in Weiß, als wollte er die Ähnlichkeit mit den Statuen noch unterstreichen.
»Du bist Fenoglio, der Dichter, nicht wahr, der, den sie den Tintenweber nennen?« Fenoglio hatte sich seine Stimme etwas voller vorgestellt. Cosimo blickte auf die Standbilder, ließ den Blick von einem zum nächsten wandern. »Irgendjemand hat mir empfohlen, dich rufen zu lassen. Ich glaube, es war meine Frau. Sie behauptet, du seist der schlaueste Kopf, den man zwischen dieser Burg und der des Natternkopfs findet, und dass ich schlaue Köpfe brauchen werde. Aber deshalb habe ich dich nicht kommen lassen.«
Violante? Violante hatte ihn empfohlen? Fenoglio versuchte seine Überraschung zu verbergen. »Nicht? Weshalb dann, Euer Gnaden?«, fragte er.
Cosimo sah ihn an, so abwesend, als blickte er durch ihn hindurch. Dann sah er an sich hinunter, zupfte an der prächtigen Tunika, die er trug, und rückte den Gürtel zurecht. »Meine Kleider passen mir nicht mehr«, stellte er fest. »Alles ist ein bisschen zu lang oder zu weit, als wären sie für die Standbilder dort und nicht für mich angefertigt worden.«
Etwas ratlos lächelte er Fenoglio zu. Es war das Lächeln eines Engels.
»Ihr. ähm. habt schwere Zeiten hinter Euch, Euer Gnaden«, sagte Fenoglio.
»Ja. Ja, das erzählt man mir. Wisst Ihr, ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur an sehr wenig. Mein Kopf fühlt sich seltsam leer an.« Er strich sich über die Stirn und blickte erneut die Statuen an. »Deshalb habe ich Euch rufen lassen«, sagte er. »Ihr sollt ein Meister der Worte sein, und ich will, dass Ihr mir helft, mich zu erinnern. Ich übertrage Euch hiermit die Aufgabe, niederzuschreiben, was es über Cosimo zu berichten gibt. Lasst es Euch erzählen, von meinen Soldaten, meinen Knechten, meiner Amme, meiner. Frau.« Er zögerte einen Moment, bevor er das Wort aussprach. »Balbulus wird Eure Geschichten abschreiben und illuminieren, und dann werde ich sie mir vorlesen lassen, damit sich die Leere in meinem Kopf und meinem Herzen wieder mit Bildern und Worten füllt. Fühlt Ihr Euch dieser Aufgabe gewachsen?«