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»Ich weiß es nicht!«, hörte er Wolkentänzer schreien. »Ich weiß nicht, was sie geschrieben hat! Ich kann doch nicht lesen!« Tapferer Wolkentänzer. Vermutlich wusste er es doch. Gewöhnlich ließ er sich alles, was er überbrachte, auch sagen.

»Aber du kannst mir sagen, wo sie ist, nicht wahr?« Das war Bastas Stimme. »Raus damit. Ist sie mit Staubfinger zusammen? Du hast doch dem Alten seinen Namen zugeraunt!«

»Ich weiß es nicht!« Wieder schrie er auf, und Minerva weinte noch lauter und schrie um Hilfe, dass es von den engen Häusern widerhallte.

Die Männer vom Natternkopf haben sie alle mitgenommen, meine Eltern und die Spielleute, las Fenoglio. Staubfinger folgt... Mäuse-Mühle... Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Wieder hörte er das Schreien von draußen. Er biss sich auf die Knöchel, so fest, dass sie zu bluten begannen. Schreib etwas, Fenoglio. Rette sie! Schreib - Es war ihm, als hörte er Meggies Stimme. Da, wieder ein Schrei. Nein. Nein, er konnte nicht so hier sitzen bleiben. Er kroch nach draußen, weiter und weiter, bis er sich aufrichten konnte.

Basta hielt den Wolkentänzer immer noch gepackt, er presste ihn gegen die Mauer des Hauses. Der Kittel des alten Seiltänzers war blutig und zerschnitten, und der Schlitzer stand vor ihm, ein Messer in der Hand. Wo war Minerva? Sie war nirgends zu entdecken, aber Despina und Ivo standen versteckt zwischen den Schuppen und sahen, was ein Mann einem anderen antun kann. Mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Basta!« Fenoglio machte einen Schritt vor. Er legte all seine Wut und all seine Angst in die Stimme - und hielt das dicht beschriebene Papier hoch.

Basta drehte sich um, mit gespielter Überraschung. »Ah, da steckst du!«, rief er. »Bei den Schweinen. Wusste ich’s doch. Bring uns den Brief besser her, bevor der Schlitzer deinen Freund hier in Streifen geschnitten hat.«

»Ihr müsst ihn euch schon holen!«

»Wozu?« Der Schlitzer lachte. »Du kannst ihn uns doch vorlesen!«

Ja. Das konnte er. Fenoglio stand da und wusste nicht weiter. Wo waren all die Lügen hin, all die praktischen Lügen, die ihm sonst so leicht über die Zunge kamen? Wolkentänzer starrte ihn an, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Angst -und plötzlich, als hielte er die Angst keinen Augenblick länger aus, riss er sich von Basta los und rannte auf Fenoglio zu. Er rannte schnell, trotz des steifen Knies, aber Bastas Messer war schneller, so viel schneller. Es durchstieß Wolkentänzer den Rücken, wie der Pfeil des Natternkopfes es mit der Brust des Goldspötters getan hatte. Der Spielmann fiel in den Schlamm, und Fenoglio stand da und begann zu zittern. Er zitterte so sehr, dass Meggies Nachricht ihm aus der Hand glitt und zu Boden flatterte. Wolkentänzer aber lag da und rührte sich nicht mehr, das Gesicht im Schmutz. Despina trat aus ihrem Versteck, sosehr Ivo auch versuchte, sie zurückzuzerren, und starrte mit großen Augen auf die reglose Gestalt zu Fenoglios Füßen. Es war still, so still auf dem Hof.

»Lies vor, Schreiberling!«

Fenoglio hob den Kopf. Basta stand vor ihm, das Messer in der Hand, das eben noch in Wolkentänzers Rücken gesteckt hatte. Fenoglio starrte auf das Blut an der blanken Klinge -und auf Meggies Worte. In Bastas Hand. Ohne nachzudenken, ballte er die Fäuste. Er stieß sie Basta vor die Brust, als gäbe es das Messer nicht, als gäbe es den Schlitzer nicht. Basta stolperte zurück, Ärger und Erstaunen auf dem Gesicht. Er fiel über einen Eimer, gefüllt mit dem Unkraut, das Minerva von ihren Beeten gerupft hatte. Fluchend kam er wieder auf die Füße. »Mach das nicht noch mal, alter Mann!«, zischte er. »Ich sag es dir jetzt zum letzten Mal. Lies vor!«

Aber Fenoglio hatte Minervas Mistgabel aus dem schmutzigen Stroh gezogen, das sich vor dem Schweinestall häufte. »Mörder!«, flüsterte er und hielt Basta die grob geschmiedeten Eisenzinken entgegen. Wo war nur seine Stimme hin? »Mörder, Mörder!«, wiederholte er, immer lauter, und stieß mit der Gabel nach Bastas Brust, dorthin, wo sein schwarzes Herz pochte.

Basta wich zurück, mit wutverzerrtem Gesicht.

»Schlitzer!«, brüllte er. »Schlitzer, komm her, und nimm ihm die verdammte Forke ab!«

Aber der Schlitzer war zwischen die Häuser getreten, das Schwert in der Hand, und lauschte. Hufe klapperten draußen auf der Gasse. »Wir müssen weg, Basta!«, stieß er hervor. »Cosimos Wachen kommen!«

Basta starrte Fenoglio an, die schmalen Augen hasserfüllt. »Wir sehen uns wieder, alter Mann!«, flüsterte er. »Aber dann liegst du so vor mir im Dreck wie er.« Achtlos stieg er über den reglosen Wolkentänzer hinweg. »Und das hier«, sagte er, während er Meggies Nachricht unter seinen Gürtel schob, »das liest Mortola mir vor. Wer hätte gedacht, dass das dritte Vögelchen uns eigenhändig schreibt, wo wir es finden? Und den Feuerfresser werden wir kostenlos dazubekommen!«

»Basta, komm endlich!« Der Schlitzer winkte ungeduldig.

»Ja, ja, was regst du dich auf? Glaubst du, sie knüpfen uns auf, weil es jetzt einen Spielmann weniger gibt?«, erwiderte Basta mit gelassener Stimme, aber er ließ Fenoglio stehen. Er winkte ihm ein letztes Mal zu, bevor er zwischen den Häusern verschwand.

Fenoglio glaubte, Stimmen zu hören, Waffengeklirr, aber vielleicht war es auch etwas anderes. Er kniete sich neben Wolkentänzer, drehte ihn sacht auf den Rücken und legte ihm das Ohr an die Brust - als hätte er den Tod nicht längst auf seinem Gesicht gesehen. Er spürte, wie die beiden Kinder neben ihn traten. Despina legte ihm die Hand auf die Schulter, schmal und leicht wie ein Blatt.

»Ist er tot?«, flüsterte sie.

»Das siehst du doch«, sagte ihr Bruder.

»Holen die Weißen Frauen ihn jetzt?«

Fenoglio schüttelte den Kopf. »Nein, er geht ganz von allein zu ihnen«, antwortete er leise. »Du siehst es doch. Er ist schon fort.

Aber sie werden ihn empfangen auf ihrem Weißen Schloss. Es ist aus Knochen gebaut, doch es sieht wunderschön aus. Dort gibt es einen Hof, einen Hof voll duftender Blumen, und ein Seil aus Mondlicht ist darüber gespannt, nur für Wolkentänzer.« Die Worte kamen wie selbstverständlich, schöne, tröstliche Worte, aber war es wirklich so? Fenoglio wusste es nicht. Es hatte ihn noch nie interessiert, was nach dem Tod kam, weder in dieser noch in der anderen Welt. Vermutlich nichts als Stille, Stille ohne ein einziges tröstendes Wort.

Minerva stolperte zwischen den Häusern hervor, eine blutige Schramme auf der Stirn. Der Bader, der an der Ecke wohnte, war bei ihr und zwei weitere Frauen, die Gesichter blass vor Angst. Despina rannte auf ihre Mutter zu, aber Ivo blieb neben Fenoglio stehen.

»Keiner wollte kommen.« Minerva schluchzte, während sie sich neben dem Toten auf die Knie fallen ließ. »Angst hatten sie. Alle!«

»Wolkentänzer«, murmelte der Bader. Knochenflicker nannten die Leute ihn, Steinschneider, Harnprophet und manchmal, wenn ihm ein Kunde gestorben war, Würg-Engel. »Vor einer Woche noch hat er mich gefragt, ob ich was gegen die Schmerzen in seinem Knie weiß.«

Fenoglio erinnerte sich, dass er den Bader beim Schwarzen Prinzen gesehen hatte. Sollte er ihm erzählen, was Wolkentänzer über das Geheime Lager gesagt hatte? Konnte er ihm trauen? Nein, es war besser, niemandem zu trauen. Nichts und niemandem. Der Natternkopf hatte viele Spione.

Fenoglio richtete sich auf. Nie zuvor hatte er sich so alt gefühlt, so alt, dass es ihm vorkam, als könnte er nicht einen einzigen weiteren Tag überstehen. Die Mühle, von der Meggie geschrieben hatte, wo zum Teufel lag die? Der Name hatte vertraut geklungen. Natürlich, weil er sie beschrieben hatte, in einem der letzten Kapitel von Tintenherz. Der Müller war kein Freund des Natternkopfes, obwohl seine Mühle ganz in der Nähe der Nachtburg lag, in einem dunklen Tal südlich des Weglosen Waldes.