»Minerva«, fragte er, »wie lange braucht ein Reiter von hier zur Nachtburg?«
»Zwei Tage bestimmt, wenn er sein Pferd nicht zuschanden reiten will«, antwortete Minerva leise.
Zwei Tage oder etwas weniger, bis Basta erfuhr, was in Meggies Brief stand. Wenn er damit zur Nachtburg ritt. Bestimmt wird er das!, dachte Fenoglio. Basta kann nicht lesen, also wird er den Brief Mortola bringen und die Elster hockt sicherlich auf der Nachtburg. Also blieben vermutlich noch zwei Tage, bis Mortola Meggies Nachricht lesen und Basta zur Mäuse-Mühle schicken würde. Wo Meggie vielleicht schon wartete. Fenoglio seufzte. Zwei Tage. Vielleicht würde das reichen, um sie zu warnen, aber wohl kaum für die Worte, die sie von ihm erhoffte - Worte, die ihre Eltern retten konnten.
Schreib etwas, Fenoglio. Schreib...
Als ob das so einfach wäre! Meggie, Cosimo, sie alle wollten Worte von ihm, aber sie hatten leicht reden. Es brauchte Zeit, die richtigen zu finden, und genau davon hatte er nicht genug!
»Minerva, sag Rosenquarz, dass ich auf die Burg muss«, sagte Fenoglio. Er war plötzlich furchtbar müde. »Sag ihm, ich hole ihn später nach.«
Minerva strich Despina übers Haar, die in ihren Rock schluchzte, und nickte. »Ja, geh auf die Burg!«, sagte sie mit belegter Stimme. »Geh hin und sag Cosimo, er soll Soldaten hinter den Mördern herschicken. Bei Gott, ich werd in der ersten Reihe stehen, wenn sie sie aufhängen!«
»Aufhängen? Was redest du denn da?« Der Bader fuhr sich durch das schüttere Haar und blickte düster auf den Toten hinab. »Wolkentänzer war ein Spielmann. Niemand wird aufgehängt, weil er einen Spielmann erstochen hat. Es wird strenger bestraft, wenn du einen Hasen im Wald erlegst.«
Ivo sah Fenoglio ungläubig an. »Sie bestrafen sie nicht?« Was sollte er ihm antworten? Nein. Keiner würde Basta und den Schlitzer bestrafen. Vielleicht würde der Schwarze Prinz es irgendwann tun oder der Mann, der sich die Maske des Eichelhähers aufgesetzt hatte, aber Cosimo würde den beiden nicht einen einzigen Soldaten nachschicken. Vogelfrei, das war das Bunte Volk, auf dieser ebenso wie auf der anderen Seite des Waldes. Niemandem Untertan und von niemandem beschützt. Aber einen Reiter wird Cosimo mir geben, wenn ich ihn darum bitte, dachte Fenoglio, einen schnellen Reiter, der Meggie vor Basta warnen kann - und ihr ausrichten, dass ich an den richtigen Worten arbeite. Schreib etwas, Fenoglio. Rette sie! Schreib etwas, das sie alle befreit und den Natternkopf tötet... Ja, weiß Gott, das würde er. Feuerlieder für Cosimo würde er schreiben und mächtige Worte für Meggie. Und dann würde ihre Stimme dieser Geschichte endlich zu einem guten Ende verhelfen.
Hoffnungslos
Der Senfnapf erhob sich und kam auf dünnen Silberbeinen zu seinem Teller,
watschelnd wie die Eule... »Au, der Senftopf ist ja reizend!«, sagte Wart. »Wo habt ihr denn den her?«
T. H. White, Der König auf Camelot, Teil I
Zum Glück konnte Darius kochen, sonst hätte Orpheus Elinor wohl schon nach der ersten Mahlzeit wieder in den Keller gesperrt und sich das Essen aus ihren Büchern gelesen. Dank Darius’ Kochkunst aber durften sie immer öfter und länger nach oben - wenn auch unter Zuckers Aufsicht -, denn Orpheus aß gern und viel, und ihm schmeckte, was Darius kochte.
Aus Sorge, Orpheus würde andernfalls nur Darius nach oben lassen, taten sie, als sei Elinor die Urheberin all der duftenden Köstlichkeiten, und Darius spielte den unermüdlich schnippelnden, rührenden und kostenden Assistenten, doch sobald Zucker gelangweilt vor die Tür stapfte, um dort Löcher in die Bücherregale zu starren, übernahm Darius die Kochlöffel und Elinor das Schnippeln - auch wenn sie dafür nahezu ebenso wenig begabt war wie fürs Kochen.
Ab und zu stolperte irgendeine verloren in die Runde blickende Gestalt in die Küche, mal menschlich, mal bepelzt oder geflügelt, einmal war es sogar ein sprechender Senfnapf. Meist konnte Elinor daraus schließen, welches ihrer armen Bücher Orpheus gerade in den blassen Händen hielt. Winzige Männer mit altertümlichen Frisuren - Gullivers Reisen vermutlich. Der Senfnapf? Sehr wahrscheinlich aus Merlins Hütte, und der bezaubernde und höchst verwirrte Faun, der eines Mittags hereintrippelte, auf zierlichen Ziegenhufen, stammte sicherlich aus Narnia.
Elinor fragte sich natürlich besorgt, ob all diese Geschöpfe in ihrer Bibliothek herumtappten, wenn sie nicht gerade mit glasigem Blick in der Küche standen, und schließlich bat sie Darius, unter dem Vorwand, nach Essenswünschen zu fragen, spionieren zu gehen. Er kam zurück mit der beruhigenden Auskunft, dass es in ihrem Allerheiligsten zwar immer noch furchtbar aussah, dass aber bis auf Orpheus, seinen abscheulichen Hund und einen etwas blassen Herrn, der Darius verdächtig an den Geist von Canterville erinnerte, niemand Eli-nors Bücher betatschte, besudelte, beschnupperte oder sonst wie belästigte.
»Gott sei’s gedankt!«, seufzte sie erleichtert. »Er lässt sie also offenbar alle wieder verschwinden. Der widerliche Kerl versteht sein Handwerk wirklich. Und offenbar kann er sie inzwischen tatsächlich hinauslesen, ohne dass jemand in den Büchern verschwindet!«
»Ohne Zweifel«, stellte Darius fest - und Elinor glaubte einen Schatten von Neid in seiner sanften Stimme zu hören.
»Nun, dafür ist er ein Monster«, sagte sie, in einem unbeholfenen Versuch, ihn zu trösten. »Nur schade, dass dieses Haus so überaus üppig mit Essensvorräten ausgestattet ist, sonst hätte er den Schrankmann längst zum Einkaufen schicken und es allein mit uns beiden aufnehmen müssen.«
So aber verstrichen die Tage, ohne dass sie irgendetwas ändern konnten - weder an ihrer eigenen Gefangenschaft noch daran, dass Mortimer und Resa in vermutlich tödlicher Gefahr schwebten. An Meggie versuchte Elinor gar nicht erst zu denken. Und Orpheus, der Einzige, der alles auf offenbar so leichte Weise hätte wieder zurechtrücken können, saß wie eine fette blasse Spinne in ihrer Bibliothek und tändelte mit ihren Büchern und deren Bewohnern herum, als wären es Spielzeuge, die man ein- und auspackt.
»Wie lange will er das noch so weitermachen, frag ich mich!«, schimpfte sie irgendwann zum bestimmt hundertsten Mal, während Darius Reis in eine Schüssel gab - natürlich gerade lang genug gekocht, weich und doch körnig. »Hat er vor, uns für den Rest seines Lebens als unbezahlte Diener zu halten, die für ihn kochen und putzen, während er sich mit meinen armen Büchern amüsiert? In meinem Haus?«
Dazu sagte Darius nichts. Stattdessen füllte er wortlos vier Teller auf - mit einem Essen, das Orpheus sicherlich nicht aus dem Haus treiben würde.
»Darius!«, flüsterte Elinor und legte eine Hand auf seine schmale Schulter. »Willst du es nicht doch versuchen? Er hat das Buch zwar immer neben sich liegen, aber vielleicht bekommen wir es doch auf irgendeine Weise in die Finger. Du könntest ihm etwas ins Essen tun - «
»Er lässt Zucker vorkosten.«
»Ja, ich weiß. Gut, dann müssen wir eben etwas anderes versuchen, irgendetwas, und dann liest du uns auch hinein, ihnen nach! Wenn dieser Widerling sie uns nicht herholen will, folgen wir ihnen eben!«
Aber Darius schüttelte den Kopf, so wie er es jedes Mal getan hatte, wenn Elinor denselben Vorschlag nur mit etwas anderen Worten vorgebracht hatte. »Ich kann es nicht, Elinor!«, flüsterte er, und seine Brille beschlug, ob vom Essensdampf oder aufsteigenden Tränen, wollte sie besser gar nicht wissen. »Ich habe noch nie jemanden in ein Buch hineingelesen, immer nur heraus, und du weißt, wie das ausgegangen ist.«