»Nun gut, dann lies jemanden her, irgendeinen starken, heldenhaften Irgendwen, der die beiden aus meinem Haus jagt! Wen interessiert’s, ob der eine eingedrückte Nase hat oder die Stimme verloren so wie Resa, Hauptsache, er hat eine Menge Muskeln!«
Wie auf sein Stichwort schob Zucker den Kopf durch die Tür. Sein Kopf war kaum breiter als sein Hals, was Elinor immer wieder in Erstaunen versetzte. »Orpheus fragt, wo das Essen bleibt.«
»Gerade fertig«, erwiderte Darius und drückte ihm einen der dampfenden Teller in die Hand.
»Schon wieder Reis?«, knurrte Zucker.
»Ja, bedaure«, sagte Darius, während er sich mit dem Teller für Orpheus an ihm vorbeischob.
»Mach du schon mal den Nachtisch fertig!«, wies Zucker Elinor an, gerade als sie sich die erste Gabel in den Mund schieben wollte.
Nein. So konnte es einfach nicht weitergehen. Küchenmagd im eigenen Haus und einen widerlichen Kerl in ihrer Bibliothek, der ihre Bücher auf den Boden warf und sie behandelte wie Pralinenschachteln, aus denen man mal dies, mal das herausnascht.
Es muss einen Weg geben!, dachte sie, während sie mit finsterer Miene Walnusseiscreme in zwei Schalen gab. Es muss. Es muss. Warum wollte ihrem dummen Kopf nur nichts einfallen?
Der Zug der Gefangenen
»Dann glauben Sie also nicht, daß er tot ist?« Er setzte seinen Hut auf.
»Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, er lebt.
Alle Symptome sprechen dafür. Geh, sieh ihn dir an, und wenn ich zurückkomme, werden wir gemeinsam darüber entscheiden.«
Harper Lee, Wer die Nachtigall stört
Es war längst dunkel, als Meggie und Farid sich aufmachten, Staubfinger zu folgen. Nach Süden, immer nach Süden, hatte Wolkentänzer gesagt, doch wie wusste man, dass man nach Süden ging, wenn es keine Sonne gab, nach der man sich richten konnte, und keine Sterne, die durch die schwarzen Blätter schienen? Die Dunkelheit schien alles gefressen zu haben, die Bäume und selbst den Boden vor ihren Füßen. Nachtfalter flatterten ihnen ins Gesicht, aufgeschreckt von dem Feuer, das Farid zwischen seinen Fingern hegte wie ein kleines Tier. Die Bäume schienen Augen und Hände zu haben, und der Wind trug Stimmen an ihre Ohren, leise Stimmen, die Meggie unverständliche Worte zuflüsterten. In jeder anderen Nacht wäre sie wohl irgendwann einfach stehen geblieben oder zurückgelaufen, dorthin, wo Wolkentänzer und die Nessel vielleicht immer noch am Feuer saßen, doch in dieser Nacht wusste sie nur eins - sie musste Staubfinger finden und ihre Eltern, denn weder die Nacht noch der Wald konnten einen Schrecken für sie bereithalten, der größer war als der, der in ihrem Herzen nistete, seit sie Mos Blut auf dem Stroh gesehen hatte.
Zuerst fand Farid mit Hilfe des Feuers immer wieder einen Stiefelabdruck von Staubfinger, einen abgebrochenen Zweig, eine Marderspur, aber irgendwann stand er nur noch ratlos da und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Baum reihte sich an Baum im bleichen Mondlicht, in jede Richtung, in die er blickte, so dicht, dass kein Pfad zwischen den Stämmen auszumachen war, und Meggie sah Augen, Augen über, hinter und neben sich. hungrige Augen, zornige Augen, so viele, dass sie sich wünschte, der Mond würde weniger hell durch die Blätter scheinen.
»Farid!«, flüsterte sie. »Lass uns auf einen Baum steigen und auf die Sonne warten. Wir finden Staubfingers Spur nie wieder, wenn wir einfach weitergehen.«
»Das sehe ich auch so!« Staubfinger erschien so lautlos zwischen den Bäumen, als hätte er schon eine ganze Weile dort gestanden. »Seit einer Stunde schon hör ich euch hinter mir durch den Wald pflügen wie eine Rotte Wildschweine«, sagte er, während Schleicher den Kopf durch seine Beine schob. »Das hier ist der Weglose Wald, und noch dazu nicht einer seiner freundlichsten Winkel. Ihr könnt nur froh sein, dass ich die Baumelben in den Eschen dort überzeugen konnte, dass ihr deren Äste nicht mutwillig abgebrochen habt. Und was ist mit den Nachtmahren? Denkt ihr, sie riechen euch nicht? Wenn ich sie nicht verscheucht hätte, würdet ihr wohl schon steif wie totes Holz zwischen den Bäumen liegen, eingesponnen in böse Träume wie zwei Fliegen in Spinnengarn.«
»Nachtmahre?«, flüsterte Farid, während die Funken auf seinen Fingerspitzen erloschen. Nachtmahre. Meggie trat näher an ihn heran. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die Resa ihr erzählt hatte. Wie gut, dass sie ihr nicht früher eingefallen war.
»Ja, hab ich dir noch nicht von ihnen erzählt?« Schleicher sprang Staubfinger entgegen, als er auf sie zuschritt, und begrüßte Gwin mit erfreutem Keckem. »Vielleicht fressen sie dich nicht bei lebendigem Leib wie diese Wüstengeister, von denen du mir immer erzählt hast, aber freundlich sind sie auch nicht gerade.«
»Ich geh nicht zurück«, sagte Meggie und sah ihn fest an. »Ich geh nicht zurück, egal, was du sagst.«
Staubfinger sah sie nur an. »Nein, ich weiß«, sagte er. »Ganz deine Mutter.« Nur das.
Die ganze Nacht folgten sie der breiten Spur, die die Gepanzerten durch den Wald geschlagen hatten, die Nacht und den folgenden Tag. Nur ab und zu, wenn er sah, dass Meggie vor Müdigkeit taumelte, ließ Staubfinger sie für kurze Zeit rasten. Als die Sonne schon wieder so tief stand, dass sie die Wipfel der Bäume berührte, erreichten sie den Kamm eines Hügels, und Meggie entdeckte zu seinen Füßen das dunkle Band einer Straße im Grün des Waldes. Eine Ansammlung von Gebäuden lag an ihrem Rand: ein lang gestrecktes Haus, Ställe um einen Hof herum.
»Das einzige Gasthaus nahe der Grenze«, raunte Staubfinger ihnen zu. »Dort haben sie vermutlich ihre Pferde untergestellt. Im Wald kommt man zu Fuß wesentlich schneller voran. In dem Gasthaus machen alle Rast, die nach Süden wollen und hinunter ans Meer: Kuriere, Händler, selbst einige Spielleute, obwohl jeder weiß, dass der Wirt ein Spion des Natternkopfs ist. Wenn wir Glück haben, sind wir vor denen, die wir verfolgen, dort, denn mit dem Karren und den Gefangenen kommen sie unmöglich die Hänge hinunter. Sie werden einen Umweg machen müssen, wir aber können gleich hier hinunter und sie am Gasthaus erwarten.«
»Und dann?« Für einen Moment glaubte Meggie in seinen Augen dieselbe Sorge zu sehen, die sie in den nächtlichen Wald getrieben hatte. Aber um wen machte er sich Sorgen? Um den Schwarzen Prinzen, die anderen Spielleute. ihre Mutter? Sie erinnerte sich noch sehr genau an den Tag in Capricorns Gruft, an dem er Resa angefleht hatte, mit ihm zu fliehen und ihre Tochter zurückzulassen.
Vielleicht hatte auch Staubfinger sich daran erinnert.
»Was siehst du mich so an?«, fragte er.
»Nichts, gar nichts«, murmelte sie und senkte den Kopf. »Ich mach mir nur Sorgen.«
»Nun, dazu hast du auch allen Grund«, sagte er und wandte ihr abrupt den Rücken zu.
»Aber was machen wir, wenn wir sie eingeholt haben?« Farid stolperte ihm hastig hinterher.
»Ich weiß nicht«, antwortete Staubfinger nur, während er begann, sich einen Weg den Abhang hinunter zu suchen, immer im Schutz der Bäume. »Ich dachte, einer von euch hätte eine Idee, wo ihr doch unbedingt mitkommen wolltet.«
Der Weg, den er nahm, führte so steil bergab, dass Meggie ihm kaum folgen konnte, aber dann, plötzlich, sah sie die Straße - steinig und durchfurcht von Rinnsalen, die irgendwann von den Hügeln herabgeflossen waren. Auf der anderen Seite lagen die Ställe und das Haus, das sie vom Hügelkamm aus gesehen hatte. Staubfinger winkte sie zu einer Stelle am Straßenrand, an der das Unterholz sie vor neugierigen Augen schützte.
»Sie scheinen wirklich noch nicht hier zu sein, aber sie müssen bald kommen!«, sagte er leise. »Vielleicht bleiben sie sogar über Nacht, schlagen sich die Bäuche voll und betrinken sich, um die Angst im Wald zu vergessen. Ich kann mein Gesicht da drüben nicht sehen lassen, solange es noch hell ist. Bei meinem Glück läuft mir bestimmt einer von den Brandstiftern über den Weg, die jetzt für den Natternkopf arbeiten. Aber du«, er legte Farid die Hand auf die Schulter, »du kannst dich schon mal rüberschleichen. Wenn dich jemand fragt, wo du herkommst, sagst du einfach, dein Herr sitzt im Gasthaus und betrinkt sich. Und sobald sie kommen: Zähl die Soldaten, zähl die Gefangenen und wie viele Kinder dabei sind. Verstanden? Ich werd mir währenddessen die Straße weiter oben ansehen, ich hab da so eine Idee.«