Farid nickte und lockte Gwin an seine Seite.
»Ich geh mit ihm!« Meggie hatte erwartet, dass Staubfinger ärgerlich werden, dass er ihr verbieten würde, ebenfalls zu gehen, aber er zuckte nur die Schultern.
»Wie du willst. Ich kann dich wohl schlecht festhalten. Ich hoffe nur, deine Mutter verrät sich nicht, wenn sie dich erkennt. Und noch etwas!« Er griff nach Meggies Arm, als sie Farid folgen wollte. »Setz dir nicht den Kopf, dass wir irgendetwas für deine Eltern tun können. Vielleicht bekommen wir die Kinder frei, vielleicht sogar noch ein paar andere, wenn sie schnell genug rennen. Aber dein Vater wird nicht rennen können, und deine Mutter wird bei ihm bleiben. Sie wird ihn nicht allein lassen, ebenso wenig wie sie es damals mit dir getan hat. Daran erinnern wir uns doch beide, oder?«
Meggie nickte und wandte das Gesicht ab, damit er ihre Tränen nicht sah. Staubfinger jedoch drehte sie sacht um und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Du bist deiner Mutter wirklich sehr ähnlich«, sagte er leise. »Sie wollte auch nie, dass man sie weinen sah - selbst wenn sie noch so gute Gründe dafür hatte.« Sein Gesicht war angespannt, als er sie beide noch einmal musterte. »Also los. Schmutzig genug seid ihr«, stellte er fest. »Jeder wird euch den Stallknecht oder das Küchenmädchen abnehmen. Wir treffen uns hinter den Ställen, sobald es dunkel ist. Und jetzt geht.«
Sie mussten nicht lange warten.
Kaum eine Stunde hatte Meggie sich mit Farid zwischen den Ställen herumgedrückt, als sie den Zug der Gefangenen die Straße herunterkommen sahen - Frauen, Kinder, alte Männer, die Hände auf den Rücken gefesselt, Soldaten zu beiden Seiten. Gepanzert waren diese nicht, kein Helm verbarg ihre mürrischen Gesichter, aber sie alle trugen die Schlange ihres Herrn auf der Brust, die silbergrauen Umhänge und ein Schwert am Gürtel. Ihren Anführer erkannte Meggie sofort. Es war der Brandfuchs. Und seinem Gesicht nach zu urteilen schien es ihm nicht sonderlich zu behagen, zu Fuß zu gehen.
»Starr sie nicht so an!«, flüsterte Farid, als Meggie wie angewurzelt stehen blieb, und zerrte sie hinter einen der Karren, die auf dem Hof abgestellt waren. »Deine Mutter ist unverletzt. Hast du sie gesehen?«
Meggie nickte. Ja. Resa ging zwischen zwei anderen Frauen, eine von ihnen war schwanger. Aber wo war Mo?
»He!«, brüllte der Brandfuchs, während seine Männer die
Gefangenen auf den Hof trieben. »Wem gehören die Karren da? Wir brauchen mehr Platz.«
Die Soldaten stießen die Karren zur Seite, einen so grob, dass die Säcke, mit denen er beladen war, ins Rutschen kamen. Ein Mann stürzte aus dem Gasthaus, vermutlich der Besitzer, den Protest schon auf den Lippen, doch als er die Soldaten sah, schluckte er ihn herunter und schrie die Knechte an, die den Karren hastig wieder aufrichteten. Händler, Bauern, Knechte -immer mehr Menschen quollen aus Ställen und Haupthaus, um zu sehen, woher der Lärm auf dem Hof stammte. Ein fetter, schwitzender Mann drängte sich durch das Getümmel auf den Brandfuchs zu, blieb anklagend vor ihm stehen und übergoss ihn mit einem Schwall wenig freundlicher Worte.
»Schon gut, schon gut!«, hörte Meggie den Brandfuchs knurren. »Aber wir brauchen Platz. Siehst du nicht, dass wir Gefangene haben? Oder sollen wir sie lieber in deine Ställe treiben?«
»Ja, ja, nimm einen von den Ställen!«, rief der fette Mann erleichtert und winkte ein paar seiner Knechte zu sich, die dastanden und die Gefangenen anstarrten. Einige hatten sich hingekniet, da, wo sie gerade standen, die Gesichter blass vor Erschöpfung und Angst.
»Komm!«, flüsterte Farid Meggie zu, und sie schoben sich Seite an Seite zwischen den schimpfenden Bauern und Händlern hindurch, zwischen den Knechten, die immer noch die aufgeplatzten Säcke vom Hof schafften, und den Soldaten, die dem Gasthaus begierige Blicke zuwarfen. Keiner schien noch sonderlich auf die Gefangenen zu achten, aber das war auch nicht nötig. Nicht einer von ihnen sah so aus, als hätte er noch Kraft zur Flucht. Selbst die Kinder, deren Beine vielleicht schnell genug gewesen wären, klammerten sich nur mit leeren Augen an die Röcke ihrer Mütter oder starrten voll Angst auf die bewaffneten Männer, die sie hergebracht hatten. Resa stützte die schwangere Frau. Ja, ihre Mutter war unverletzt, so viel sah Meggie, obwohl sie es vermied, allzu sehr in Resas Nähe zu kommen, aus Angst, Staubfinger könnte Recht haben mit seiner Sorge, dass sie sich bei ihrem Anblick verraten würde. Wie verzweifelt sie sich umsah. Sie griff nach dem Arm eines Soldaten, wie ein Junge sah er aus mit seinem bartlosen Gesicht, und dann - »Farid.« Meggie glaubte nicht, was sie sah. Resa sprach. Nicht mit den Händen, sondern mit dem Mund. Ihre Stimme war kaum zu hören in all dem Lärm, aber es war ihre Stimme. Wie war das möglich? Der Soldat hörte ihr nicht zu, er stieß sie grob zurück, und Resa wandte sich um. Der Schwarze Prinz und sein Bär zogen einen Karren auf den Hof. Wie Ochsen waren die beiden vor den Karren gespannt. Eine Kette schlang sich um die schwarze Schnauze des Bären, eine weitere um seinen Hals und seine Brust. Aber Resa hatte weder Augen für den Bären noch für den Prinzen -sie starrte nur den Karren an, und Meggie begriff sofort, was das bedeutete.
Ohne ein Wort lief sie los. »Meggie!«, rief Farid ihr nach, aber sie hörte nicht hin. Keiner hielt sie auf. Der Karren war ein morsches Ding. Erst sah sie nur den Spielmann mit dem verletzten Bein und das Kind auf seinem Schoß. Dann sah sie Mo.
Ihr Herz wollte nicht mehr schlagen. Er lag mit geschlossenen Augen da, unter einer schmutzigen Decke, aber Meggie sah das Blut trotzdem. Sein ganzes Hemd war voll Blut, das Hemd, das er so gern trug, obwohl die Ärmel schon verschlissen waren. Meggie vergaß alles, Farid, die Soldaten, Staubfingers Warnung, wo sie war, warum sie hier war. Sie starrte nur ihren Vater an und sein stilles Gesicht. Die Welt war plötzlich ein leerer Ort, so leer, und ihr Herz ein kaltes, totes Ding.
»Meggie!« Farid griff nach ihrem Arm. Er zerrte sie mit sich, sosehr sie sich auch sträubte, und presste sie an sich, als sie zu schluchzen begann.
»Er ist tot, Farid! Hast du ihn gesehen? Mo. er ist tot!« Sie stammelte es immer wieder, das furchtbare Wort. Tot. Fort. Für immer.
Sie stieß Farids Arme weg. »Ich muss zu ihm.« Es klebt
Unglück an diesem Buch, Meggie, nichts als Unglück. Auch wenn du mir das nicht glauben willst. Hatte er es ihr nicht in Elinors Bibliothek gesagt? Wie weh jedes Wort jetzt tat. Der Tod hatte in dem Buch gewartet, sein Tod.
»Meggie!« Farid hielt sie immer noch fest. Er schüttelte sie, als müsste er sie aufwecken. »Meggie, hör zu. Er ist nicht tot! Glaubst du, sie würden ihn sonst mit sich schleppen?«
Würden sie? Sie wusste gar nichts mehr.
»Komm mit. Na, komm schon!« Farid zog sie mit sich. Er schob sich so beiläufig durch das Gedränge, als interessierte ihn die ganze Aufregung nicht. Schließlich blieb er mit ge-langweiltem Gesicht neben dem Stall stehen, in den die Soldaten die Gefangenen trieben. Meggie wischte sich die Tränen aus den Augen und gab sich Mühe, ebenso gleichgültig dreinzublicken, aber wie sollte das gehen mit einem Herzen, das plötzlich schmerzte, als hätte es jemand entzweigeschnitten?
»Hast du genug zu essen da?«, hörte sie den Brandfuchs fragen. »Wir haben einen Riesenhunger aus dem verfluchten Wald mitgebracht.«