»Wir treffen uns unten an der Straße, bei dem umgestürzten Baum!« Der Prinz nickte und verschmolz mit der Nacht. Staubfinger aber machte sich auf die Suche nach dem Jungen und Resas Tochter. Auf dem Hof schrien die Soldaten durcheinander, die Flucht des Schwarzen Prinzen und seines Bären war entdeckt worden. Selbst der Pfeifer war aus dem Haus gekommen. Aber weder Farid noch das Mädchen konnte Staubfinger entdecken.
Die Soldaten begannen, mit Fackeln den Waldrand und den Hang hinterm Haus abzusuchen. Staubfinger flüsterte in die Nacht, bis das Feuer schläfrig wurde und eine Fackel nach der anderen erlosch, als hätte der schwache Wind sie ausgeblasen. Beunruhigt blieben die Männer auf der Straße stehen, sahen sich um, die Augen voll Angst - Angst vor der Dunkelheit, Angst vor dem Bären und all dem, was sonst noch nachts im Wald umherstrich.
Bis dorthin, wo der umgestürzte Baum die Straße blockier-te, traute sich keiner von ihnen. Der Wald und die Hügel waren dort so still, als hätte nie ein Mensch sie betreten. Gwin hockte auf dem Baumstamm und Farid und Meggie warteten auf der anderen Seite unter den Bäumen. Der Junge hatte eine blutige Lippe und das Mädchen hatte den Kopf müde gegen seine Schulter gelegt. Verlegen richtete sie sich auf, als Staubfinger vor ihnen auftauchte.
»Ist er frei?«, fragte Farid.
Staubfinger legte ihm die Hand unters Kinn und sah sich die zerschlagene Lippe an. »Ja. Was immer morgen passiert, der Prinz und sein Bär werden uns helfen. Wie ist das passiert?« Die beiden Marder huschten an ihm vorbei und verschwanden Seite an Seite im Wald.
»Ach, das ist nichts. Einer von den Soldaten wollte mich festhalten, aber ich bin ihm entwischt. Nun sag schon! War ich gut?« Als ob er die Antwort nicht wusste.
»So gut, dass ich mir langsam Sorgen mache. Wenn du so weitermachst, werd ich bald aus dem Geschäft sein.«
Farid lächelte.
Wie traurig Meggie dagegen aussah. Sie sah ebenso verloren aus wie das Kind, das sie in dem geplünderten Lager gefunden hatten. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, wie es in ihr aussah, auch wenn man seine Eltern, wie er, nie gekannt hatte. Gaukler, Spielfrauen, ein herumziehender Bader. Staubfinger hatte viele Eltern gehabt. wer sich beim Bunten Volk eben gerade um die Kinder kümmerte, die irgendwie übrig geblieben waren. Na los, sag irgendwas zu ihr, Staubfinger, irgendetwas!, dachte er. Ihrer Mutter hast du doch auch so manches Mal die Traurigkeit vertrieben. Wenn auch meist nur für kurze Zeit. gestohlene Zeit.
»Hör zu.« Er ging vor Meggie in die Knie, sah sie an. »Wenn wir morgen tatsächlich einige frei bekommen, wird der Schwarze Prinz sie in Sicherheit bringen - aber wir drei folgen den anderen.«
Sie blickte ihn so misstrauisch an, als wäre er ein brüchiges Seil, auf das sie den Fuß setzen sollte - hoch in der Luft.
»Warum?«, fragte sie leise. Wenn sie leise sprach, ahnte man nichts von der Kraft, die ihre Stimme entfalten konnte. »Warum willst du ihnen helfen?« Sie sprach es nicht aus: Beim letzten Mal hast du es doch auch nicht getan. Damals, in Capricorns Dorf.
Was sollte er darauf antworten? Dass es leichter war, in einer fremden Welt nur zuzuschauen als in der eigenen?
»Sagen wir, vielleicht habe ich etwas gutzumachen?«, sagte er schließlich. Er wusste, dass er ihr nicht erklären musste, was er meinte. Sie erinnerten sich beide an die Nacht, in der er sie an Capricorn verraten hatte. Und noch etwas, hätte er fast hinzugefügt: Ich finde, deine Mutter ist lange genug eine Gefangene gewesen. Aber die Worte sprach er nicht aus. Er wusste, dass sie Meggie nicht gefallen hätten.
Eine gute Stunde später stieß der Prinz zu ihnen, unverletzt, mit seinem Bären.
Der brennende Baum
Siehst du, wie die Flammen lecken, züngeln und die Zungen blecken, wie das Feuer tanzt und zuckt. Trockne Hölzer schlingt und schluckt?
James Krüss, Das Feuer
Resa bluteten die Füße. Die Straße war steinig und feucht vom Morgentau. Sie hatten wieder allen die Hände gefesselt, nur den Kindern nicht. Welche Angst sie gehabt hatten, dass die Soldaten sie nicht zwischen den anderen Gefangenen gehen lassen, sondern auf den Karren laden würden! »Weint, wenn sie euch zwingen wollen!«, hatten sie den Kleinen zugeflüstert. »Weint und schreit, bis sie euch neben uns laufen lassen.« Aber zum Glück war das nicht nötig gewesen. Wie ängstlich sie dreinblickten, die drei - zwei Mädchen und ein Junge, das Kind nicht mitgezählt, das in Minas Bauch steckte.
Das älteste Mädchen war gerade sechs, es ging zwischen Resa und Mina. Jedes Mal, wenn Resa es ansah, fragte sie sich, wie Meggie in dem Alter wohl ausgesehen hatte. Mo hatte ihr Fotos gezeigt, viele Fotos von all den Jahren, die sie versäumt hatte, aber es waren nicht ihre Erinnerungen, sondern die seinen. Und Meggies.
Mutige Meggie. Resa zog sich immer noch das Herz zusammen, wenn sie daran dachte, wie sie ihr im Stall das Blatt Papier zugesteckt hatte. Wo war sie jetzt? Ob sie sie vom Wald aus beobachtete?
Erst als draußen das Geschrei wegen des Schwarzen Prinzen ausgebrochen war, hatte sie die Buchstaben lesen können, im Schein der Fackel, die die Nacht über im Stall gebrannt hatte. Keiner der anderen konnte lesen, also hatte sie Staubfingers Nachricht nur flüsternd an die Frauen weitergeben können, die gleich neben ihr hockten. Danach hatte es keine Gelegenheit gegeben, auch die Männer einzuweihen, doch die, die laufen konnten, würden das sowieso tun. Die Kinder waren es, um die Resa sich gesorgt hatte, und sie wussten nun, was sie tun sollten.
Das andere Mädchen und der Junge gingen zwischen ihrer Mutter und der Krummfingrigen, die Mo hatte zurück zu Capricorns Festung schaffen wollen. Auch ihr hatte Resa nichts von Staubfingers Nachricht gesagt. Jeder Blick, den sie ihr zuwarf, sagte: Recht habe ich gehabt! Mina aber lächelte, wenn sie sie ansah, Mina mit dem runden Bauch, die so viel Grund gehabt hätte, sie zu hassen für das, was geschehen war. Vielleicht hatten die Blumen ja wirklich Glück gebracht, die sie ihr in die Höhle gebracht hatte. Mo ging es besser, viel besser - nachdem sie so viele endlose Stunden immer wieder gedacht hatte, sein nächster Atemzug würde sein letzter sein. Seit der Flucht des Prinzen zog ein Pferd den Karren, auf dem er lag. Der Bär habe den Prinzen befreit, flüsterten die anderen, was endgültig beweise, dass er ein Nachtmahr sei. Mit seinem Geisterblick hätte er die Ketten verschwinden lassen, sich in einen Menschen verwandelt und seinem Herrn die Fesseln durchtrennt. Resa fragte sich, ob dieser Mensch vielleicht Narben im Gesicht gehabt hatte. Als in der Nacht der Lärm losgebrochen war, hatte sie große Angst um Staubfinger, Meggie und den Jungen gehabt, aber am nächsten Morgen hatte ihr der Ärger auf den Gesichtern der Soldaten verraten, dass sie entkommen waren.
Wo blieb nur der umgestürzte Baum, von dem Meggie geschrieben hatte?
Das Mädchen neben ihr klammerte die Hand in ihr Kleid. Resa lächelte ihm zu - und spürte, wie der Pfeifer sie von seinem Pferd herab musterte. Schnell wandte sie den Kopf ab. Zum Glück hatten weder er noch der Brandfuchs sie erkannt.
Oft genug hatte sie auf Capricorns Festung den blutigen Liedern des Pfeifers lauschen müssen - als er noch eine Menschennase im Gesicht trug -, und dem Brandfuchs hatte sie die Stiefel geputzt, doch zum Glück hatte er nicht zu denen gehört, die ihr und den anderen Mägden nachgestellt hatten.