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Nicht einer von denen, die hatten fliehen können, war dabei verletzt worden. Nur eins der Kinder hatte sich den Fuß vertreten, aber es war so klein, dass die Erwachsenen es tragen konnten. Der Wald hatte sie alle so rasch verschluckt, dass die Männer des Natternkopfes schon nach wenigen Schritten nur noch Schatten jagten. Ein hohler Baum, in den Staubfinger die Kinder schob, ein Dickicht von Teufelszwirn und wilden Nesseln, unter das die Frauen krochen, während der Bär des Schwarzen Prinzen die Soldaten fern hielt. Die Männer waren in die Bäume geklettert, bis hoch hinauf zwischen die Blätter. Staubfinger und der Prinz versteckten sich als Letzte, nachdem sie die Soldaten in die Irre gelockt hatten, mal hierhin, mal dorthin.

Der Prinz riet den Befreiten nach Ombra zurückzukehren und sich vorerst den Spielleuten anzuschließen, die dort noch lagerten.

Er selbst hatte andere Pläne. Bevor er ging, sprach er noch mit Meggie, und danach blickte sie nicht mehr ganz so hoffnungslos drein.

»Er hat gesagt, er wird nicht zulassen, dass man meinen Vater hängt«, erzählte sie Farid. »Er sagt, er weiß, dass Mo nicht der Eichelhäher ist und dass er und seine Männer dem Natternkopf schon klar machen werden, dass er den Falschen gefangen hat.«

Sie blickte so hoffnungsvoll drein, als sie das sagte, dass Farid nur nickte und »Na, wunderbar!« murmelte - obwohl er bloß das eine dachte: dass der Natternkopf Zauberzunge trotzdem hinrichten würde.

»Was ist mit dem Spitzel, von dem der Pfeifer gesprochen hat?«, fragte er Staubfinger, als sie sich erneut auf den Weg machten. »Wird der Prinz ihn suchen?«

»Da wird er nicht lange suchen müssen«, antwortete Staubfinger nur. »Er muss bloß darauf warten, dass irgendein Spielmann plötzlich die Taschen voller Silber hat.«

Silber. Farid musste es zugeben: Er war neugierig auf die silbernen Türme der Nachtburg. Selbst die Zinnen waren angeblich versilbert. Aber sie würden einen anderen Weg dorthin wählen als der Brandfuchs. »Wir wissen, wo sie hinwollen«, erklärte Staubfinger ihnen. »Und es gibt sicherere Wege zur Nachtburg als die Straße.«

»Was ist mit der Mäuse-Mühle?«, fragte Meggie. »Der Mühle, von der du im Wald gesprochen hast? Gehen wir dort nicht zuerst hin?«

»Nicht unbedingt. Warum?«

Meggie schwieg. Offenbar wusste sie nur zu gut, dass die Antwort Staubfinger nicht gefallen würde. »Ich habe Wolkentänzer einen Brief für Fenoglio mitgegeben«, sagte sie schließlich. »Ich habe ihn gebeten, etwas zu schreiben, etwas, das meine Eltern rettet, und dass er es zu der Mühle schicken soll.«

»Einen Brief?« Staubfingers Stimme klang so scharf, dass Farid unwillkürlich den Arm um Meggies Schultern legte. »Na, wunderbar! Was, wenn den die falschen Augen lesen?«

Farid zog den Kopf ein, aber Meggie nicht. Nein. Sie erwiderte Staubfingers Blick. »Niemand außer Fenoglio kann ihnen jetzt noch helfen«, sagte sie. »Und das weißt du. Du weißt es ganz genau.«

Ein Klopfen an der Tür

Lanzelot blickte in seinen Becher.

»Er ist unmenschlich«, sagte er endlich. »Aber weshalb sollte er menschlich sein? Erwartet Ihr von Engeln, daß sie menschlich sind?«

T. H. White, Der König auf Camelot, Teil 2

Seit Tagen schon war der Reiter fort, den Fenoglio Meggie nachgeschickt hatte. »Du musst reiten wie der Wind«, hatte er ihm gesagt - und dass es um Leben und Tod eines jungen und natürlich wunderschönen Mädchens ging. (Schließlich wollte er, dass der Kerl auch wirklich sein Bestes gab!) »Leider wirst du sie wohl nicht überreden können, mit dir zurückzukommen, sie ist sehr starrköpfig«, hatte er noch hinzugesetzt, »also mach mit ihr einen neuen und diesmal sicheren Treffpunkt aus und sag ihr, du kommst so bald wie möglich mit einem Brief von mir zurück. Kannst du dir das merken?«

Der Soldat, noch ein richtiger Milchbart, hatte die Worte ohne Mühe wiederholt und war davongaloppiert, mit der Versicherung, in spätestens drei Tagen zurück zu sein. Drei Tage. Wenn der Bursche sein Versprechen hielt, würde er bald zurück sein - aber Fenoglio würde keinen Brief haben, den er Meggie bringen lassen konnte. Denn die Worte, die diese ganze Geschichte wieder zurechtrücken sollten: die Guten retten, die Bösen bestrafen, wie sich das eben so gehörte, wollten sich einfach nicht einstellen!

Tag und Nacht saß Fenoglio in der Kammer, die Cosimo ihm hatte zuweisen lassen, und starrte auf die Pergamentbögen, die Minerva ihm gebracht hatte, zusammen mit dem reichlich verschreckten Rosenquarz. Aber es war wie verhext: Was immer er begann, zerlief ihm wie Tinte auf feuchtem Papier. Wo waren sie nur hin, die verdammten Wörter? Warum blieben sie tot wie trockenes Laub? Er stritt sich mit Rosenquarz, befahl ihm, Wein zu besorgen, Gebratenes, Süßes, andere Tinte, eine neue Feder - während draußen auf den Burghöfen gehämmert und geschmiedet wurde, das Tor der Burg verstärkt, die Pechpfannen gesäubert, die Lanzen geschärft. Es verursachte Lärm, einen Krieg vorzubereiten. Vor allem, wenn man es damit eilig hatte. Und Cosimo hatte es sehr eilig.

Die Worte für ihn hatten sich fast von selbst geschrieben: Worte voll gerechtem Zorn. Cosimos Ausrufer hatten sie bereits auf Marktplätze und Dörfer getragen. Seither strömten die Freiwilligen nach Ombra, Soldaten für den Kampf gegen den Natternkopf. Aber wo waren die Worte, mit denen gleichzeitig Cosimos Krieg gewonnen und Meggies Vater vor dem Galgen bewahrt wurde?

Oh, wie er sich seinen alten Kopf zermarterte! Aber ihm wollte einfach nichts einfallen! Die Tage verstrichen und in Fenoglios Herzen machte sich Verzweiflung breit. Was, wenn der Natternkopf Mortimer inzwischen längst aufgehängt hatte? Würde Meggie dann überhaupt noch lesen wollen? Würde es ihr nicht ganz gleichgültig sein, was mit Cosimo und dieser Welt geschah, wenn ihr Vater erst einmal tot war? »Unsinn, Fenoglio«, murmelte er, als er erneut seit Stunden einen Satz nach dem anderen durchstrich. »Und weißt du was? Wenn dir keine Worte einfallen, dann muss es diesmal eben ohne sie gehen. Dann wird Cosimo eben Mortimer retten!«

Ach ja? Und was, wenn sie die Burg des Natternkopfs stürmen und dabei alle im Kerker der brennenden Burg sterben?, flüsterte es in ihm. Oder wenn Cosimos Truppen an den steil aufragenden Mauern der Nachtburg zerschellen?

Fenoglio legte die Feder zur Seite und vergrub das Gesicht in den Händen. Draußen wurde es schon wieder dunkel und sein Kopf war ebenso leer wie das Pergament vor ihm. Cosimo hatte ihn von Tullio an seine Tafel bitten lassen, aber er hatte keinen Appetit, auch wenn er Cosimo zu gern dabei beobachtete, wie er mit leuchtenden Augen den Liedern lauschte, die er über ihn geschrieben hatte. Selbst wenn die Hässliche zehnmal behauptete, ihren Mann langweilten Worte - dieser Cosimo liebte, was Fenoglio lieferte: wunderschöne Märchen über seine vergangenen Heldentaten, über seine Zeit bei den Weißen Frauen und den Kampf bei Capricorns Festung.

Ja, er stand in hoher Gunst bei dem schönen Fürsten, genau wie er es geschrieben hatte - während die Hässliche immer häufiger vergebens darum bat, bei ihrem Mann vorgelassen zu werden. Und so saß Violante noch öfter als vor Cosimos Rückkehr in der Bibliothek. Seit dem Tod ihres Schwiegervaters musste sie sich nicht länger heimlich hineinschleichen oder Balbulus mit ihrem Schmuck bestechen, denn es interessierte Cosimo nicht, ob sie las. Ihn interessierte nur, ob sie Briefe an ihren Vater schrieb oder sonst wie versuchte, mit dem Natternkopf Kontakt aufzunehmen. Als ob sie das je getan hätte!

Violante tat Fenoglio Leid in ihrer Einsamkeit, aber er tröstete sich damit, dass sie schon immer einsam gewesen war. Selbst ihr Sohn hatte daran nichts geändert. Dennoch - vermutlich hatte sie noch nie die Gesellschaft eines Menschen so sehr begehrt wie die Cosimos. Das Mal auf ihrem Gesicht war verblasst, aber nun brannte etwas anderes darauf - die Liebe, ebenso nutzlos, wie es das Mal gewesen war, denn Cosimo liebte nicht zurück. Im Gegenteil, er ließ seine Frau bewachen. Seit einiger Zeit folgte Violante ein vierschrötiger Mann mit kahlem Kopf, der früher die Jagdhunde des Speckfürsten abgerichtet hatte. Er folgte der Hässlichen, als hätte er sich selbst in einen Hund verwandelt, einen schnüffelnden Hund, der versuchte, jeden ihrer Gedanken zu wittern. Angeblich ließ Violante Balbulus Briefe an Cosimo schreiben, flehende Briefe, in denen sie ihn der Treue und Ergebenheit versicherte, aber ihr Mann, sagte man, las sie nicht. Einer seiner Verwalter behauptete gar, Cosimo habe das Lesen verlernt.