Fenoglio nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete voll Neid den schlafenden Rosenquarz, der neben dem Tintenfass lag und friedlich vor sich hin schnarchte. Er griff gerade erneut nach der Feder, als es an der Tür klopfte.
Wer konnte das sein so spät in der Nacht? Cosimo ritt um die Zeit meist aus.
Es war seine Frau, die vor der Tür stand. Violante trug eins der schwarzen Kleider, die sie bei Cosimos Rückkehr abgelegt hatte. Ihre Augen waren gerötet, als wären sie wund vom Weinen, aber vielleicht benutzte sie auch nur den Beryll zu oft.
Fenoglio erhob sich von seinem Stuhl. »Kommt herein!«, sagte er. »Wo ist Euer Schatten?«
»Ich habe einen Wurf junger Hunde gekauft und ihm gesagt, dass er sie abrichten soll, als Überraschung für Cosimo. Seither verschwindet er ab und zu.«
Sie war klug, o ja, sehr klug sogar. Hatte er das gewusst? Nein, er erinnerte sich ja kaum daran, sie erfunden zu haben.
»Setzt Euch doch!« Er schob ihr seinen eigenen Stuhl hin -einen anderen gab es nicht - und setzte sich auf die Truhe unterm Fenster, in der er seine Kleider aufbewahrte, nicht die alten, mottenzerfressenen, sondern die, die Cosimo ihm hatte schneidern lassen, prächtige Kleider, angefertigt für einen Hofdichter.
»Cosimo hat Brianna schon wieder mitgenommen!«, sagte Violante mit gebrochener Stimme. »Sie darf mit ihm ausreiten, mit ihm essen, selbst die Nächte verbringt sie bei ihm. Jetzt erzählt sie ihm Geschichten, nicht mir, liest ihm vor, singt für ihn, tanzt für ihn, so wie sie es früher für mich getan hat. Und ich bin allein. Könnt Ihr nicht mit ihr sprechen?« Violante strich mit fahrigen Händen über ihr schwarzes Kleid. »Brianna liebt Eure Lieder, vielleicht hört sie auf Euch! Ich brauche sie. Ich habe sonst niemanden auf dieser Burg außer Balbulus, und der will nur Gold für neue Farben von mir.«
»Was ist mit Eurem Sohn?«
»Der mag mich nicht.«
Fenoglio schwieg, denn sie hatte Recht. Jacopo mochte niemanden, außer seinem finsteren Großvater, und niemand mochte Jacopo. Es war nicht leicht, ihn zu mögen. Von draußen drang die Nacht herein und das Hämmern der Schmiede.
»Cosimo plant, die Mauern der Stadt zu verstärken«, fuhr Violante fort. »Er will jeden Baum fällen lassen bis hinunter zum Fluss. Die Nessel soll ihn deswegen verflucht haben. Sie soll gesagt haben, dass sie mit den Weißen Frauen sprechen wird, damit sie ihn zurückholen.«
»Keine Sorge. Die Weißen Frauen tun nicht, was die Nessel sagt.«
»Seid Ihr da sicher?« Sie rieb sich die wunden Augen. »Brianna ist meine Vorleserin! Er hat kein Recht, sie mir fortzunehmen. Ich will, dass Ihr ihrer Mutter schreibt. Cosimo lässt all meine Briefe lesen, aber Ihr könnt sie herbitten. Euch traut er. Schreibt Briannas Mutter, dass Jacopo mit ihrem Sohn spielen will und sie ihn gegen Mittag auf die Burg bringen soll. Ich weiß, sie war früher eine Spielfrau, aber jetzt soll sie Kräuter ziehen. Alle Bader der Stadt gehen zu ihr. Ich habe ein paar sehr seltene Pflanzen in meinem Garten. Schreibt ihr, sie kann sich dort nehmen, was sie will, Saat, Wurzelausläufer, Ableger, was immer sie wünscht, wenn sie nur kommt.«
Roxane. Sie wollte, dass Roxane herkam.
»Warum wollt Ihr mit der Mutter sprechen und nicht mit Brianna selbst? Sie ist kein kleines Mädchen mehr.«
»Ich habe es versucht! Sie hört mir nicht zu. Sie sieht mich nur schweigend an, murmelt Entschuldigungen - und geht wieder zu ihm. Nein. Ich muss mit ihrer Mutter sprechen.«
Fenoglio schwieg. Er war nicht sicher, dass Roxane kommen würde, nach allem, was er über sie wusste. Schließlich hatte er es ihr selbst ins Herz geschrieben: ihren Stolz und ihre Abneigung gegen Fürstenblut. Andererseits - hatte er Meggie nicht versprechen müssen, ein Auge auf Staubfingers Tochter zu haben? Wenn er schon sonst kein Versprechen halten konnte, weil die Worte ihn schmählich im Stich ließen, vielleicht sollte er es wenigstens mit diesem versuchen. Himmel!, dachte er. Ich möchte nicht in Staubfingers Nähe sein, wenn er erfährt, dass seine Tochter die Nächte bei Cosimo verbringt!
»Nun gut, ich schicke Roxane einen Boten«, sagte er. »Aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Ich habe gehört, dass sie nicht sehr glücklich darüber ist, dass ihre Tochter bei Hof lebt.«
»Ich weiß!« Violante erhob sich und warf einen Blick auf das Papier, das auf seinem Schreibpult wartete. »Schreibt Ihr an einer neuen Geschichte? Ist es eine über den Eichelhäher? Ihr müsst sie zuerst mir zeigen!« Für einen Moment war sie ganz die Tochter des Natternkopfes.
»Natürlich, natürlich«, versicherte Fenoglio hastig. »Ihr bekommt sie noch vor den Spielleuten. Und ich werde sie so schreiben, wie Ihr es am liebsten habt: finster, hoffnungslos, unheimlich.« - und grausam, setzte er in Gedanken hinzu. Ja, die Hässliche liebte Geschichten voller Dunkelheit. Sie wollte nicht, dass man ihr von Glück und Schönheit erzählte, sie wollte vom Tod hören, von Unglück, Hässlichkeit und tränenschweren Geheimnissen. Sie wollte ihre eigene, ganz eigene Welt, und die hatte noch nie von Schönheit und Glück erzählt.
Sie sah ihn immer noch an - mit demselben überheblichen Blick, den ihr Vater auf die Welt warf. Fenoglio erinnerte sich an die Worte, die er einst über ihre Familie geschrieben hatte: Edles Blut - seit Hunderten von Jahren glaubte die Sippe des Natternkopfes fest daran, dass das Blut, das durch ihre Adern floss, sie kühner, klüger und stärker machte als all die, die ihnen Untertan waren. Hundert und noch mal hundert Jahre derselbe Blick, selbst in den Augen der Hässlichen, die ebendiese Sippe am liebsten gleich nach ihrer Geburt wie einen verkrüppelt geborenen Hund im Burggraben ertränkt hätte.
»Die Diener sagen, Briannas Mutter könnte noch schöner singen als sie. Sie sagen, sie könnte Steine zum Weinen bringen und Rosen zum Blühen.« Violante strich sich übers Gesicht, dort, wo das Mal noch vor kurzer Zeit so rot gebrannt hatte.
»Ja, so etwas habe ich auch gehört.« Fenoglio folgte ihr zur Tür.
»Sie soll früher sogar auf der Burg meines Vaters gesungen haben, aber ich glaube das nicht. Mein Vater hat nie Spielleute durch sein Tor gelassen, er hat sie höchstens davor aufgehängt.« Ja, weil man sich einst erzählt hat, Eure Mutter hätte ihn mit einem Spielmann betrogen, dachte Fenoglio, während er ihr die Tür öffnete.
»Brianna sagt, ihre Mutter singt nicht mehr, weil sie glaubt, dass ihre Stimme allen, die sie liebt, großes Unglück bringt. Bei Briannas Vater soll es so gewesen sein.«
»Ja, auch das habe ich gehört.«
Violante trat auf den Flur hinaus. Selbst aus der Nähe war ihr Mal kaum noch zu sehen. »Ihr schickt den Boten gleich morgen früh zu ihr?«
»Wenn Ihr es wünscht.«
Sie blickte den dunklen Korridor hinunter. »Brianna will nie über ihren Vater reden. Eine der Köchinnen behauptet, er sei ein Feuerspucker. Sie sagt, Briannas Mutter sei sehr verliebt in ihn gewesen, doch dann habe sich einer von den Brandstiftern ebenfalls in sie verliebt und dem Feuerspucker das Gesicht zerschnitten.«
»So habe ich die Geschichte auch gehört!« Fenoglio sah sie nachdenklich an. Staubfingers Geschichte, bitter und süß, sie war nach Violantes Geschmack, ganz gewiss.