»O doch, doch, ich kenne Staubfinger!«, stammelte er. »Ich kenne ihn sogar recht gut. Wisst Ihr, ich bin oft bei den Spielleuten, wenn sie ihre Zelte hier aufschlagen, unten vor der Stadtmauer. Dort, ähm, hab ich ihn getroffen.«
»Tatsächlich?« Roxane strich einer Staude über die gefiederten Blätter. »Ich wusste gar nicht, dass er sich schon dort hat blicken lassen.« Mit nachdenklichem Gesicht trat sie an ein anderes Beet. »Wilde Malven. Die habe ich auch auf meinen Feldern. Sind sie nicht schön? Und so nützlich.« Sie sah Fenoglio nicht an, während sie weitersprach. »Staubfinger ist fort. Wieder einmal. Ich habe nur die Nachricht erhalten, dass er Männern des Natternkopfes folgt, die ein paar Spielleute verschleppt haben. Ihre Mutter«, sie schlang den Arm um das Mädchen, »ist auch dabei. Und der Schwarze Prinz, ein guter Freund von ihm.«
Den Prinzen hatten sie auch gefangen? Fenoglio versuchte, seinen Schreck zu verbergen. Offenbar war alles noch viel schlimmer, als er gedacht hatte - und was er schrieb, taugte immer noch nichts.
Roxane strich über die Samenstände eines Lavendelbusches. Sofort hing der süße Duft in der Luft. »Man sagt, dass Ihr dabei wart, als der Wolkentänzer getötet wurde. Kanntet Ihr seinen Mörder? Ich habe gehört, es soll Basta gewesen sein, einer der Brandstifter aus dem Wald.«
»Da habt Ihr leider richtig gehört.« Es verging keine Nacht, in der Fenoglio Bastas Messer nicht durch die Luft fliegen sah, in jeden Traum verfolgte es ihn.
»Der Junge hat Staubfinger erzählt, dass Basta zurück ist. Aber ich hatte gehofft, dass er lügt. Ich mache mir Sorgen.« Sie sprach so leise, dass Fenoglio ihre Worte kaum verstand. »Solche Sorgen, dass ich mich ständig dabei ertappe, wie ich einfach nur dasteh und zum Wald hinüberstarre, als könnte er im nächsten Moment wieder zwischen den Bäumen stehen, so wie an dem Morgen, an dem er zurückkam.« Sie pflückte eine Samenkapsel und schüttelte ein paar der winzigen Samen in ihre Hand. »Kann ich die mitnehmen?«
»Alles, was Ihr wollt«, erwiderte Fenoglio. »Samen, Ausläufer, Ableger, so soll ich es Euch von Violante ausrichten -wenn Ihr Eure Tochter überredet, künftig wieder ihr und nicht ihrem Mann Gesellschaft zu leisten.«
Roxane betrachtete die Samen in ihrer Hand. und ließ sie auf das Beet rieseln. »Das geht nicht. Meine Tochter hört schon seit Jahren nicht mehr auf mich. Sie liebt das Leben hier, obwohl sie weiß, dass ich es nicht tue, und sie liebt Co-simo, seit sie ihn das erste Mal hat aus dem Burgtor reiten sehen, am Tag seiner Hochzeit. Kaum sieben Jahre alt war sie damals, und seither wollte sie nur noch hierher, auf die Burg, auch wenn sie dafür eine Magd sein musste. Hätte Violante sie nicht irgendwann unten in der Küche singen hören, dann würde sie wohl noch immer Nachttöpfe ausleeren, Küchenabfälle zu den Schweinen bringen und manchmal heimlich nach oben schleichen, um Cosimos Standbilder anzustarren. Stattdessen wurde sie Violantes kleine Schwester. trug ihre Kleider, hütete ihren Sohn, sang und tanzte für sie und wurde eine Spielfrau, wie ihre Mutter es war. Aber nicht eine mit bunten Röcken und schmutzigen Füßen, einem Bett neben der Straße und einem Messer gegen die Landstreicher, die versuchen, nachts unter ihre Decke zu kriechen, sondern eine in Seidenkleidern und einem weichen Bett zum Schlafen. Das Haar trägt sie trotzdem offen, so wie ich es getan habe, und lieben tut sie auch zu viel, genau wie ich. Nein!«, sagte sie und legte Fenoglio die Samenkapsel in die Hand. »Richtet Violante aus, dass ich ihr nicht helfen kann, auch wenn ich es gern täte.«
Das kleine Mädchen blickte Fenoglio an. Wo seine Mutter wohl jetzt war?
»Hört zu!«, sagte er zu Roxane. Ihre Schönheit machte ihn schwindelig. »Nehmt so viel Samen mit, wie Ihr wollt. Sie werden aufs beste gedeihen auf Euren Feldern, viel besser als zwischen diesen grauen Mauern. Staubfinger ist mit Meggie fort. Ich habe ihr einen Boten nachgeschickt. Sobald er zurück ist, werdet Ihr alles erfahren, was er zu berichten weiß: wo sie jetzt sind, wie lange sie fortbleiben werden, alles!«
Roxane nahm ihm die Samenkapsel wieder aus der Hand, pflückte noch eine weitere Hand voll und schob sie vorsichtig in den Beutel an ihrem Gürtel. »Ich danke Euch«, sagte sie. »Aber wenn ich nicht bald etwas von Staubfinger höre, mach ich mich selbst auf die Suche nach ihm. Ich habe zu oft einfach nur darauf gewartet, dass er heil zurückkommt, und ich kann an nichts anderes mehr denken als daran, dass Basta wieder da ist!«
»Aber wie wollt Ihr ihn finden? Das Letzte, was ich von Meggie gehört habe, ist, dass sie zu einer Mühle wollten, der Mäuse-Mühle. Sie liegt auf der anderen Seite des Waldes, auf dem Gebiet des Natternkopfes! Dort ist es gefährlich!«
Roxane lächelte ihn an wie eine Frau, die einem Kind erklärt, wie die Welt beschaffen ist. »Hier wird es bald auch gefährlich sein«, sagte sie. »Oder glaubt Ihr, dem Natternkopf ist noch nicht zu Ohren gekommen, dass Cosimo Tag und Nacht Schwerter schmieden lässt? Vielleicht solltet Ihr Euch schon mal nach einem anderen Ort zum Schreiben umsehen. Bevor die Brandpfeile Euch auf das Schreibpult regnen.«
Roxanes Pferd wartete im Äußeren Hof der Burg. Es war ein alter Rappe, hager und grau um die Schnauze. »Ich kenne die Mäuse-Mühle«, sagte sie, während sie das Mädchen auf den Pferderücken hob. »Ich werde vorbeireiten, und wenn ich die beiden dort nicht finde, versuche ich es beim Schleierkauz. Er ist der beste Bader, den ich kenne, jenseits und diesseits des Waldes, und er hat sich um Staubfinger gekümmert, als er noch ein Junge war. Vielleicht hat er von ihm gehört.«
Natürlich, der Schleierkauz! Wie hatte Fenoglio den vergessen können? Wenn Staubfinger jemals so etwas wie einen Vater gehabt hatte, dann ihn. Er war einer der Bader gewesen, die mit den Spielleuten umherzogen, von Ort zu Ort, von Markt zu Markt. Viel mehr wusste er leider nicht über ihn. Verflucht, Fenoglio!, dachte er. Wie kann man nur seine eigenen Geschichten vergessen? Und rede dich jetzt nicht mit deinem Alter heraus.
»Wenn Ihr Jehan seht, schickt ihn nach Hause«, sagte Roxane, während sie sich hinter dem Mädchen aufs Pferd schwang. »Er kennt den Weg.«
»Wollt Ihr auf diesem alten Klepper durch den Weglosen Wald?«
»Dieser alte Klepper trägt mich immer noch, so weit ich will«, sagte sie. Das Mädchen lehnte den Kopf gegen ihre Brust, als sie die Zügel aufnahm. »Lebt wohl!«, sagte sie, aber Fenoglio griff ihr in die Zügel. Es war ihm eine Idee gekommen, eine verzweifelte Idee, aber was sollte er machen? Auf den Reiter, den er ausgeschickt hatte, warten, bis es zu spät war?
»Roxane«, raunte er zu ihr hinauf. »Ich muss Meggie einen Brief zukommen lassen. Ich habe ihr einen Reiter nachgesandt, der mir berichten soll, wo sie ist und wie es ihr geht, aber er ist noch nicht zurück und bis ich ihn erneut mit dem Brief losgeschickt habe (erzähl nichts von Basta und dem Schlitzer, Fenoglio, das regt sie nur unnötig auf.), also, worauf ich hinauswill (Himmel, Fenoglio, starr sie nicht so an und stammle nicht herum wie ein alter Tattergreis!): Würdet Ihr den Brief für Meggie mitnehmen, falls Ihr Staubfinger tatsächlich nachreitet? Ihr werdet sie in dem Fall vermutlich eher antreffen als jeder Bote, den ich ihr schicke!« Was für einen Brief?, spottete es in ihm. Einen Brief, in dem du ihr schreibst, dass dir nichts eingefallen ist? Aber er ignorierte die Stimme wie üblich. »Es ist ein sehr wichtiger Brief!« Wenn er noch leiser hätte sprechen können, er hätte es getan.
Roxane runzelte die Stirn. Selbst das sah schön aus. »Der letzte Brief, den Ihr bekommen habt, hat Wolkentänzer das Leben gekostet. Aber gut, bringt ihn mir, wenn Ihr wollt. Wie ich sagte, sehr lange werde ich nicht mehr warten.«
Der Burghof schien Fenoglio seltsam leer, als sie fort war. In seiner Kammer wartete Rosenquarz schon mit vorwurfsvollem Blick neben dem immer noch leeren Pergament. »Weißt du was, Rosenquarz?«, sagte Fenoglio zu dem Glasmann, während er sich mit einem Seufzer erneut auf seinem Stuhl niederließ, »ich glaube, Staubfinger würde mir meinen alten Hals umdrehen, wenn er wüsste, wie ich seine Frau anstarre. Aber was soll’s! Er würde mir sowieso am liebsten den Hals umdrehen, da kommt es auf einen Grund mehr oder weniger nicht an. Er hat Roxane gar nicht verdient, so oft, wie er sie allein lässt!«