Denk nach, Farid. Na los. Er sah sich um, ließ die Augen umherwandern, als könnten sie ihm einen Fluchtweg durch die fest gefügten Mauern zeigen. Es gab noch ein Fenster, aber der Knecht stand davor, und eine Holztreppe, die hinauf zum Dachboden führte, vermutlich lagerte dort das Korn. Durch den Holztrichter, der aus der Decke ragte, wurde es auf den Mühlstein geschüttet. Der Trichter! Ja! Gleich über dem Stein ragte er aus der Decke, wie ein hölzernes Maul. Was, wenn er.
Farid sah an der Mühle hinauf. Gab es dort oben noch ein Fenster? Ja, es gab eines, kaum mehr als ein Loch in der Mauer, aber er war schon durch engere Öffnungen gekrochen. Das Herz klopfte ihm immer noch bis zum Hals, als er sich weiter die Mauer emporzog. Zu seiner Linken schäumte der Fluss und von einer Weide starrte ihn eine Krähe so misstrauisch an, als wollte sie ihn im nächsten Moment bei dem Müller verraten. Farids Atem ging schwer, als er die Schultern durch die enge Maueröffnung zwängte. Als er die Füße auf die mehlweißen Holzbohlen setzte, knarrten sie verräterisch, aber das Rauschen des Wassers übertönte das Geräusch. Auf dem Bauch kroch Farid auf den Trichter zu und lugte hindurch. Da stand er, neben dem Mühlstein, gleich unter ihm: Basta. und ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Steins, musste Staubfinger mit Meggie stehen. Farid konnte ihn nicht sehen, aber er konnte sich nur zu gut vorstellen, woran Staubfinger dachte: an Fenoglios Worte, die von seinem Tod erzählten.
»Pack dir den Marder, Schlitzer!«, sagte Basta zu dem Mann neben sich. »Nun mach schon.«
»Mach es selber. Meinst du, ich will mir die Tollwut holen?«
»Gwin, komm her!« Das war Staubfingers Stimme. Was tat er? Wollte er seiner eigenen Angst ins Gesicht lachen, so wie er es manchmal tat, wenn das Feuer ihm in die Haut biss? Gwin sprang von dem Stein. Er würde sich auf Staubfingers Schulter setzen und Basta anstarren. Dummer Gwin. Wusste nichts von den Worten.
»Schöne neue Kleider, Basta!«, sagte Staubfinger. »Tja, wenn der Diener einen neuen Herrn findet, muss er eben neue Kleider anziehen, stimmt’s?«
»Diener? Wer ist hier ein Diener? Hört ihn euch an. So frech, als hätte er mein Messer noch nie zu spüren bekommen! Hast du schon vergessen, wie du geschrien hast, als es dir das Gesicht zerschnitten hat?« Basta setzte einen Stiefel auf den Mühlstein. »Untersteh dich, auch nur einen Finger zu rühren. Hoch mit den Händen. Los, streck sie in die Luft! Ich weiß, was du in dieser Welt mit dem Feuer anstellen kannst. Ein Flüstern von dir, ein Schnipsen, und mein Messer steckt der kleinen Hexe in der Brust.«
Ein Schnipsen. Ja, geh endlich an die Arbeit, Farid! Suchend sah er sich um, drehte hastig etwas Stroh zu einer Fackel zusammen und begann zu flüstern. »Komm schon!«, lockte er, schnalzte und zischte, so wie Staubfinger es ihm gezeigt hatte, nachdem er ihm zum ersten Mal etwas Feuerhonig in den Mund geschoben hatte. Jeden Abend hatte er sie mit ihm geübt, hinter Roxanes Haus, die Sprache des Feuers, knisternde Worte. Farid flüsterte sie alle, bis aus dem Stroh eine winzige Flamme leckte.
»Buuu! Siehst du, wie die kleine Hexe mich anstarrt, Schlitzer?«, rief Basta unter ihm mit gespieltem Entsetzen. »Nur schade, dass sie Buchstaben braucht, um zu hexen. Aber von einem Buch ist hier weit und breit nichts zu sehen. War es nicht nett von ihr, uns höchstpersönlich aufzuschreiben, wo man euch finden kann?« Basta verstellte die Stimme, bis sie hoch wie die eines Mädchens klang: »Die Männer vom Natternkopf haben sie alle mitgenommen, meine Eltern und die Spielleute. Schreib etwas, Fenoglio! Na ja, oder so ähnlich. Weißt du, dass dein Vater noch lebt, hat mich wirklich enttäuscht. Ja, guck nicht so ungläubig, kleine Hexe, ich kann immer noch nicht lesen, ich hab auch nicht vor, es zu lernen, aber es laufen genug Dummköpfe herum, die es können, auch in dieser Welt. Gleich vorm Stadttor von Ombra ist uns ein Schreiberlein in die Arme gelaufen. Es hat etwas gedauert, bis es dein Gekritzel entziffern konnte, aber um vor euch hier zu sein, hat es allemal gereicht. Wir waren sogar rechtzeitig zur Stelle, um den Boten des Alten zu töten, der euch warnen sollte.«
»Du bist ja noch geschwätziger als früher, Basta!« Staubfingers Stimme klang gelangweilt. Wie gut er seine Angst verbergen konnte! Farid bewunderte ihn dafür stets aufs Neue, fast noch mehr als für seine Kunstfertigkeit mit dem Feuer.
Langsam, ganz langsam zog Basta sein Messer aus dem Gürtel. Staubfinger mochte keine Messer. Seins steckte meist im Rucksack, und der lehnte draußen an der Mauer. Wie oft hatte Farid ihn schon gebeten, es am Gürtel zu tragen, aber nein, er wollte nichts davon hören!
»Geschwätzig, so, so.« Basta betrachtete sein Spiegelbild in der blanken Messerklinge. »Ja, das kann man von dir nicht behaupten. Aber weißt du was? Weil wir uns schon so lange kennen, werde ich deiner Frau die Nachricht von deinem Tod höchstpersönlich überbringen! Was hältst du davon, Feuerfresser? Denkst du, Roxane wird sich freuen, mich wiederzusehen?« Liebkosend strich er mit zwei Fingern an der Messerschneide entlang. »Und was dich betrifft, kleine Hexe. ich fand es zu nett, dass du deinen Brief einem alten Seiltänzer anvertraut hast, der mit seinem steifen Bein nicht halb so schnell war wie mein Messer.«
»Wolkentänzer? Du hast Wolkentänzer umgebracht?« Jetzt klang Staubfingers Stimme nicht mehr gelangweilt.
Bleib stehen, bitte!, flüsterte Farid. Bitte, bleib stehen. Hastig fütterte er die Flamme mit weiteren Halmen.
»Ah, das wusstest du also noch nicht!« Bastas Stimme wurde weich vor Zufriedenheit. »Ja, es hat sich ausgetanzt für deinen alten Freund. Frag den Schlitzer, er war dabei.«
»Du lügst!« Meggies Stimme zitterte.
Farid beugte sich vorsichtig vor. Er sah, wie Staubfinger sie unsanft hinter sich schob und mit den Augen einen Fluchtweg suchte, aber es gab keinen. Hinter ihm und Meggie stapelten sich die Säcke voll Mehl, rechts versperrte ihnen der Schlitzer den Weg, links der Knecht mit dem dummen Grinsen und vor dem Fenster, durch das Farid hineingespäht hatte, stand der Müller selbst. Zu ihren Füßen aber lag Stroh, sehr viel Stroh, und das würde fast so gut brennen wie Papier.
Basta lachte. Mit einem Satz sprang er auf den Mühlstein und sah auf Staubfinger herab. Gleich neben der Schütte stand er nun. Beeil dich, nun mach schon, flüsterte Farid, zündete ein weiteres Strohbündel an dem ersten an und hielt sie beide über die Schütte. Hoffentlich begann das Holz des Trichters nicht zu brennen. Hoffentlich rutschte das Stroh durch. Hoffentlich. Er verbrannte sich die Finger, als er die brennenden Bündel hineinstopfte, aber er achtete nicht darauf. Staubfinger saß in der Falle, und Meggie war bei ihm. Was zählten da ein paar verbrannte Finger?
»Ja, der arme Wolkentänzer war viel zu langsam«, schnurrte Basta, während er das Messer von einer Hand in die andere warf. »Du bist schneller, Feuerfresser, ich weiß, aber trotzdem wirst du nicht davonkommen. Und diesmal werd ich dir nicht nur das Gesicht zerschneiden, diesmal schneid ich dir die Haut in Streifen vom Kopf bis zu den Füßen.«
Jetzt! Farid ließ das brennende Stroh los. Der Trichter fraß es wie einen Sack Korn und spuckte es Basta auf die Stiefel.
»Feuer! Woher kommt das Feuer?« Das war die Stimme des Müllers. Der Knecht schrie auf wie ein Ochse, der das Schlachtbeil sieht.
Farids Finger schmerzten, die Haut schlug schon Blasen, aber das Feuer tanzte - es tanzte hinauf an Bastas Beinen, leckte nach seinen Armen. Erschrocken stolperte er zurück, fiel rücklings von dem Mühlstein und schlug sich den Kopf blutig an der Kante. O ja, Basta fürchtete das Feuer, er fürchtete es mehr als das Unglück, vor dem ihn seine Amulette schützen sollten.
Farid aber sprang die Treppe hinunter, die nach unten führte, stieß den Knecht aus dem Weg, der ihn anstarrte, als wäre er ein Geist, sprang auf Meggie zu und riss sie mit sich, auf das Fenster zu.