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Staubfinger fuhr sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht und streckte Mo die Hand hin.

»Wie geht es dir, Zauberzunge?«, fragte er. »Ist lange her.«

Mo ergriff zögernd die ausgestreckte Hand. »Sehr lange«, sagte er und blickte dabei an seinem Besucher vorbei, als erwartete er, hinter ihm noch eine andere Gestalt aus der Nacht auftauchen zu sehen. »Komm rein, du wirst dir noch den Tod holen. Meggie sagt, du stehst schon eine ganze Weile da draußen.«

»Meggie? Ach ja, natürlich.« Staubfinger ließ sich von Mo ins Haus ziehen. Er musterte Meggie so ausführlich, dass sie vor Verlegenheit nicht wusste, wo sie hinsehen sollte. Schließlich starrte sie einfach zurück.

»Sie ist groß geworden.«

»Du erinnerst dich an sie?«

»Sicher.«

Meggie fiel auf, dass Mo zweimal abschloss.

»Wie alt ist sie jetzt?« Staubfinger lächelte ihr zu. Es war ein seltsames Lächeln. Meggie konnte sich nicht entscheiden, ob es spöttisch, herablassend oder einfach nur verlegen war. Sie lächelte nicht zurück.

»Zwölf«, antwortete Mo.

»Zwölf? Du meine Güte.« Staubfinger strich sich das tropfnasse Haar aus der Stirn. Es reichte ihm fast bis zur Schulter. Meggie fragte sich, welche Farbe es wohl hatte, wenn es trocken war. Die Bartstoppeln um den schmallippigen Mund waren rötlich wie das Fell der streunenden Katze, der Meggie manchmal ein Schälchen Milch vor die Tür stellte. Auch auf seinen Backen sprossen sie, spärlich wie der erste Bart eines jungen Mannes. Die Narben konnten sie nicht verdecken, drei lange blasse Narben. Sie ließen Staubfingers Gesicht aussehen, als wäre es irgendwann zerbrochen und wieder zusammengesetzt worden.

»Zwölf Jahre alt«, wiederholte er. »Natürlich. Damals war sie ... drei, nicht wahr?«

Mo nickte. »Komm, ich gebe dir was zum Anziehen.« Er zog seinen Besucher mit sich, voll Ungeduld, als hätte er es plötzlich eilig, ihn vor Meggie zu verbergen. »Und du«, sagte er über die Schulter zu ihr, »du gehst schlafen, Meggie.« Dann zog er ohne ein weiteres Wort die Tür der Werkstatt hinter sich zu.

Meggie stand da und rieb die kalten Füße aneinander. Du gehst schlafen. Manchmal warf Mo sie aufs Bett wie einen Sack Nüsse, wenn es wieder mal zu spät geworden war. Manchmal jagte er sie nach dem Abendessen durchs Haus, bis sie atemlos vor Lachen in ihr Zimmer entkam. Und manchmal war er so müde, dass er sich auf dem Sofa ausstreckte und sie ihm einen Kaffee kochte, bevor sie schlafen ging. Aber nie, niemals zuvor hatte er sie so ins Bett geschickt wie eben.

Eine Ahnung, klebrig von Angst, machte sich in ihrem Herzen breit: dass mit diesem Fremden, dessen Name so seltsam und doch vertraut klang, etwas Bedrohliches in ihr Leben geschlüpft war. Und sie wünschte sich - mit solcher Heftigkeit, dass sie selbst erschrak -, dass sie Mo nicht geholt hätte und dass Staubfinger draußen geblieben wäre, bis der Regen ihn fortgeschwemmt hätte.

Als die Tür zur Werkstatt noch einmal aufging, schrak sie zusammen.

»Du stehst ja immer noch da«, sagte Mo. »Geh ins Bett, Meggie. Los.« Er hatte diese kleine Falte über der Nase, die nur erschien, wenn ihm etwas wirklich Sorgen machte, und blickte durch sie hindurch, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Die Ahnung in Meggies Herzen wuchs und spreizte schwarze Flügel.

»Schick ihn wieder weg, Mo!«, sagte sie, während er sie auf ihr Zimmer zuschob. »Bitte! Schick ihn weg. Ich kann ihn nicht leiden.«

Mo lehnte sich in ihre offene Tür. »Wenn du morgen aufstehst, ist er fort. Ehrenwort.«

»Ehrenwort? Ohne gekreuzte Finger?« Meggie blickte ihm fest in die Augen. Sie sah immer, wenn Mo log - auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, es vor ihr zu verbergen.

»Ohne gekreuzte Finger«, sagte er und hielt zum Beweis beide Hände hoch.

Dann schloss er die Tür hinter sich, obwohl er wusste, dass sie das nicht mochte. Meggie presste lauschend das Ohr dagegen. Sie hörte Geschirr klappern. Ah, der Fuchsbart bekam einen Tee zum Aufwärmen. Ich hoffe, er bekommt eine Lungenentzündung, dachte Meggie. Er musste ja nicht gleich daran sterben wie die Mutter ihrer Englischlehrerin. Meggie hörte, wie der Kessel in der Küche pfiff und Mo mit einem Tablett voll klapperndem Geschirr zurück in die Werkstatt ging.

Nachdem er die Tür zugezogen hatte, wartete sie vorsichtshalber noch ein paar Sekunden, auch wenn es ihr schwer fiel. Dann schlich sie wieder hinaus auf den Flur.

An der Tür zu Mos Werkstatt hing ein Schild, ein schmales Blechschild. Meggie kannte die Wörter darauf auswendig. An den altmodisch spitzgliedrigen Buchstaben hatte sie mit fünf Jahren das Lesen geübt:

Manche Bücher müssen gekostet werden,

manche verschlingt man,

und nur einige wenige kaut man

und verdaut sie ganz.

Damals, als sie noch auf eine Kiste hatte klettern müssen, um das Schild zu entziffern, hatte sie geglaubt, dass das Kauen wörtlich gemeint war, und sich voll Abscheu gefragt, warum Mo ausgerechnet die Worte eines Bücherschänders an seine Tür gehängt hatte.

Inzwischen wusste sie, was gemeint war, aber heute, in dieser Nacht, interessierten sie die geschriebenen Wörter nicht. Die gesprochenen Wörter wollte sie verstehen, die geraunten, leisen, fast unverständlichen Wörter, die die beiden Männer hinter der Tür wechselten.

»Unterschätz ihn nicht!«, hörte sie Staubfinger sagen. Seine Stimme klang so anders als Mos Stimme. Keine Stimme klang so wie die ihres Vaters. Mo konnte Bilder mit ihr in die blanke Luft malen.

»Er würde alles tun, um es zu bekommen!« Das war wieder Staubfinger. »Und alles, glaub mir, heißt alles.«

»Ich werde es ihm nie geben.« Das war Mo.

»Aber er wird es so oder so bekommen! Ich sage es dir noch maclass="underline" Sie haben deine Spur.«

»Das wäre nicht das erste Mal. Bisher konnte ich sie immer abschütteln.«

»Ach ja? Und wie lange, denkst du, geht das noch gut? Und was ist mit deiner Tochter? Willst du mir etwa erzählen, dass es ihr gefällt, ständig von Ort zu Ort zu ziehen? Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Hinter der Tür wurde es so still, dass Meggie kaum zu atmen wagte, aus Angst, die beiden Männer könnten es hören.

Dann sprach ihr Vater wieder, zögernd, als fiele es seiner Zunge schwer, die Wörter zu formen. »Und was ... soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Komm mit mir. Ich bring dich zu ihnen!« Eine Tasse klirrte. Ein Löffel schlug gegen Porzellan. Wie groß kleine Geräusche in der Stille werden. »Du weißt, Capricorn hält sehr viel von deinen Talenten, er würde sich sicherlich freuen, wenn du es ihm selber bringst! Der Neue, den er als Ersatz für dich aufgetrieben hat, ist ein furchtbarer Stümper.«

Capricorn. Noch so ein seltsamer Name. Staubfinger hatte ihn hervorgestoßen, als könnte ihm der Klang die Zunge zerbeißen. Meggie bewegte die kalten Zehen. Die Kälte zog ihr schon bis in die Nase und sie verstand nicht viel von dem, was die beiden Männer redeten, doch sie versuchte sich jedes einzelne Wort einzuprägen.

In der Werkstatt war es wieder still geworden.

»Ich weiß nicht ...«, sagte Mo schließlich. Seine Stimme klang so müde, dass es Meggie das Herz zusammenzog. »Ich muss nachdenken. Was schätzt du, wann seine Männer hier sein werden?«

»Bald!«

Wie ein Stein fiel das Wort in die Stille.

»Bald«, wiederholte Mo. »Na gut. Dann werde ich mich bis morgen entscheiden. Hast du einen Platz zum Schlafen?«