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Düstere Aussichten

Kaa senkte den Kopf und legte ihn für eine Weile sanft auf Mowglis Schulter. »Ein tapferes Herz und eine höfliche Zunge«, lobte er. »Damit wirst du es im Dschungel noch weit bringen, Menschenkind. Aber nun lauf mit deinen Freunden schnell wieder fort. Leg dich schlafen, denn schon geht der Mond unter, und was jetzt kommt, ist nicht für deine Augen bestimmt.«

Rudyard Kipling, Das Dschungelbuch

Reichlich zu essen bekamen sie tatsächlich. Gegen Mittag brachte ihnen eine Frau Brot und Oliven, und gegen Abend gab es Nudeln, die nach frischem Rosmarin dufteten. Die endlos langen Stunden konnte das nicht verkürzen, ebenso wenig, wie ein voller Bauch die Angst vor dem nächsten Tag vertrieb. Vielleicht hätte das nicht einmal ein Buch geschafft, aber es war müßig, darüber nachzudenken. Es war kein Buch da, nur die fensterlosen Wände und die verschlossene Tür. Immerhin hing eine neue Glühbirne unter der Decke, so mussten sie nicht die ganze Zeit im Dunkeln sitzen. Meggie blickte immer wieder auf den Spalt unter der Tür, um zu sehen, ob es schon dunkel wurde. Sie stellte sich vor, wie draußen die Eidechsen in der Sonne saßen. Auf dem Platz vor der Kirche hatte sie einige gesehen. Hatte die smaragdgrüne, die sich aus den Münzen geschlängelt hatte, den Weg nach draußen gefunden? Und was war mit dem Jungen? Jedes Mal, wenn Meggie die Augen schloss, sah sie sein bestürztes Gesicht.

Sie fragte sich, ob Mo dieselben Gedanken durch den Kopf gingen. Seit man sie wieder eingesperrt hatte, hatte er kaum ein Wort gesprochen. Er hatte sich auf das Strohlager geworfen und das Gesicht zur Wand gedreht. Elinor war nicht gesprächiger. »Wie großzügig!«, hatte sie nur gemurmelt, nachdem Cockerell die Tür hinter ihnen verriegelt hatte. »Unser Gastgeber hat uns zwei weitere Haufen schimmeliges Stroh spendiert.« Dann hatte sie sich mit ausgestreckten Beinen in eine Ecke gesetzt und damit begonnen, finster erst ihre Knie und dann die schmutzige Wand anzustarren.

»Mo?«, fragte Meggie irgendwann, als sie die Stille einfach nicht mehr ertrug. »Was meinst du, was sie mit dem Jungen machen? Und was ist das für ein Freund, den du Capricorn aus dem Buch herauslesen sollst?«

»Ich weiß nicht, Meggie«, antwortete er nur, ohne sich umzudrehen.

Also ließ sie ihn in Ruhe, baute sich ein Strohbett neben dem seinen und schlenderte an den kahlen Wänden entlang. Vielleicht saß hinter einer von ihnen der fremde Junge? Sie legte das Ohr gegen die Mauer. Kein Laut drang hindurch. Jemand hatte seinen Namen in den Putz geritzt: Ricardo Bentone, 19.5.96. Meggie fuhr mit dem Finger über die Buchstaben. Zwei Handbreit weiter stand noch ein Name und noch einer. Meggie fragte sich, was aus ihnen geworden war, aus Ricardo und Ugo und Bernardo ... Vielleicht sollte ich meinen Namen auch hineinritzen, dachte sie, für den Fall, dass ... Sie dachte den Satz vorsorglich nicht zu Ende.

Hinter ihr streckte Elinor sich seufzend auf ihrem Strohlager aus. Als Meggie sich zu ihr umdrehte, lächelte sie ihr zu. »Was würde ich jetzt für einen Kamm geben!«, sagte sie und strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich hätte nie gedacht, dass ich in so einer Situation ausgerechnet einen Kamm vermissen würde, aber es ist so. Himmel, ich habe nicht eine Haarnadel mehr. Ich muss wie eine Hexe aussehen oder wie eine Spülbürste, die schon bessere Tage gesehen hat.«

»Ach, eigentlich siehst du ganz gut aus. Die Haarnadeln sind dir doch sowieso dauernd rausgerutscht«, sagte Meggie. »Ich finde sogar, du siehst jünger aus.«

»Jünger? Hm. Na, wenn du es sagst.« Elinor blickte an sich herunter. Ihr mausgrauer Pullover war voller Schmutz und ihre Strümpfe hatten gleich drei Laufmaschen. »Wie du mir da in der Kirche geholfen hast«, sagte sie und zupfte ihren Rocksaum über die Knie, »das war wirklich nett. Meine Knie waren noch wie Gummi, solche Angst hatte ich. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich, als wär ich jemand anders, als wäre die gute alte Elinor wieder nach Hause gefahren und hätte mich hier allein gelassen.« Ihre Lippen begannen zu zittern und für einen Augenblick dachte Meggie, sie würde anfangen zu weinen, aber die alte Elinor war wohl doch noch da.

»Ja, da sieht man es mal wieder!«, sagte sie. »Erst in der Not zeigt sich, aus was für einem Holz man geschnitzt ist. Ich dachte immer, ich sei aus Eichenholz gemacht, aber wie es aussieht, ist es wohl doch eher Birnbaum oder sonst ein butterweiches Holz. Da reicht es, dass so ein Mistkerl vor meiner Nase mit seinem Messer herumspielt, und schon rieseln die Späne.«

Jetzt kamen die Tränen doch, sosehr Elinor auch versuchte, sie hinunterzuschlucken. Ärgerlich fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Ich finde, du hältst dich gut, Elinor.« Mo lag immer noch mit dem Gesicht zur Wand. »Ich finde, ihr haltet euch beide gut. Und ich könnte mir eigenhändig den Hals dafür umdrehen, dass ich euch das Ganze hier eingebrockt habe.«

»Unsinn, wenn hier jemandem der Hals umgedreht werden sollte, dann diesem Capricorn«, sagte Elinor. »Und diesem Basta. O Gott, ich hätte nie gedacht, dass ich mir mal mit solch grenzenlosem Vergnügen ausmalen würde, einen anderen Menschen umzubringen. Aber ich bin mir sicher, wenn ich diesem Basta einmal die Finger um den Hals legen dürfte ...«

Als sie Meggies erstaunten Blick sah, verstummte sie schuldbewusst, doch Meggie zuckte nur die Schultern.

»Geht mir genauso«, murmelte sie und begann, mit ihrem Fahrradschlüssel ein M in die Mauer zu ritzen. Verrückt, dass sie den Schlüssel immer noch in der Hosentasche hatte. Wie ein Andenken an ein anderes Leben.

Elinor fuhr mit dem Finger über eine ihrer Laufmaschen und Mo drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke hinauf. »Es tut mir so Leid, Meggie«, sagte er plötzlich. »Es tut mir so Leid, dass ich mir das Buch habe abnehmen lassen.«

Meggie kratzte ein großes E in die Wand. »Ach, das macht doch sowieso keinen Unterschied«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. Die Gs in ihrem Namen sahen aus wie angebissene Os. »Wahrscheinlich könntest du sie ja sowieso nie wieder herausholen.«

»Ja, wahrscheinlich«, murmelte Mo - und starrte wieder zur Decke hinauf.

»Es ist nicht deine Schuld, Mo«, sagte Meggie. Hauptsache, du bist bei mir!, wollte sie hinzufügen. Hauptsache, Basta hält dir nie wieder sein Messer an den Hals. Ich erinnere mich doch kaum an sie, ich kenn sie doch nur von ein paar Fotos.

Aber sie schwieg, denn sie wusste, dass all das Mo nicht trösten würde, im Gegenteil, wahrscheinlich würde es ihn nur noch trauriger machen. Zum ersten Mal ahnte Meggie, wie sehr er ihre Mutter vermisste. Und einen verrückten Augenblick lang war sie eifersüchtig.

Sie kratzte ein I in den Putz, das war leicht - und ließ den Fahrradschlüssel sinken.

Draußen näherten sich Schritte.

Elinor presste die Hand vor den Mund, als sie stehen blieben. Es war Basta, der die Tür aufstieß. Hinter ihm stand eine Frau; Meggie erkannte die Alte, die sie in Capricorns Haus gesehen hatte. Mit mürrischem Gesicht drängte sie sich an Basta vorbei und stellte einen Becher und eine Thermoskanne auf den Boden. »Als ob ich nicht genug zu tun hätte!«, brummte sie, bevor sie wieder hinausging. »Jetzt dürfen wir auch noch diese Herrschaften durchfüttern. Lasst sie doch wenigstens arbeiten, wenn ihr sie schon hier festhalten müsst.«

»Sag das Capricorn«, antwortete Basta nur. Dann zog er sein Messer heraus, lächelte Elinor zu und wischte die Klinge an seiner Jacke ab. Draußen wurde es dunkel, und sein blütenweißes Hemd leuchtete in der aufziehenden Dämmerung.

»Lass dir den Tee schmecken, Zauberzunge«, sagte er, während er sich an der Angst auf Elinors Gesicht weidete. »Mortola hat so viel Honig in die Kanne gerührt, dass der erste Schluck dir vermutlich den Mund zukleben wird, aber dein Hals ist morgen sicherlich wie neu.«